«Constructive Alps» prämiert nachhaltige Neubauten und Sanierungen in den Alpen. Fotos: Yves Maurer Weisbrod

Ewige Berge, neues Glück

Bauen ist eine Chance, die Welt zu verbessern. Davon erzählt ein altes Volkslied, der Architekturpreis «Constructive Alps» erbringt den Beweis.




Là-haut, sur la montagne, l'était un vieux chalet.
Murs blanc, toit de bardeaux, devant la porte un vieux bouleau.
Là-haut, sur la montagne, l'était un vieux chalet.


Wer in den Bergen baut, bewegt Gemüter. Davon berichtet das Schweizer Volkslied «Le Vieux Chalet», das der Priester Joseph Bovet 1929 komponiert hat. In der ersten Strophe preist er die Schönheit der Alpinen Architektur, die in manchem Tal eine eigene Prägung herausgebildet habe. Diese Schönheit aufzuspüren, war die Aufgabe der achtköpfigen Jury des Architekturpreises «Constructive Alps». Die Juroren und Jurorinnen schwärmten aus, um von Frankreich bis Slowenien die gut gebauten «weissen Mauern» und die solid konstruierten «Schindeldächer» zu finden. Sie suchten keine gemauerten Spektakel, sondern Alltagsarchitektur, wie sie Bovet besingt. Auch ein Gewerbebau kann überlegt gebaut, auch eine Scheune mit Sorgfalt geplant, auch ein Verwaltungsgebäude mit architektonischem Furor entworfen sein.

Gute Architektur nimmt die Geschichte eines Ortes auf und spinnt sie weiter, auch davon erzählt das Lied. Sie ist Teil einer Baukultur, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Also zog die Jury aus, um das Neue im Alten, das Alte im Neuen zu finden: Traditionelle Strickbauten in moderner Form. Robotergefertigte Holzelementwände, die einem alten Material neue Möglichkeiten entlocken. Himmelhochjauchzende Gauben, die das bestehende Dach fortführen.
Vor dem Chalet wächst eine «alte Birke», so dichtete Bovet: Architektur steht immer in Bezug zur Landschaft, insbesondere in den Alpen. Dieser gilt es, Sorge zu tragen. Ohne Landschaft keine Bergbauernwirtschaft und kein Gipfeltourismus. Die Jury suchte also nach Gebäuden, die sich respektvoll in den Hang einfügen, die möglichst wenig Boden versiegeln, die den Bezug zu Hügeln und Tälern gekonnt inszenieren. Wer im Gebirge baut, trägt eine besondere Verantwortung. Da die Bauten oft einsam stehen, fallen sie mehr auf und richten schneller ökologischen, sozialen und ästhetischen Schaden an.

«Constructive Alps» sucht gute Neubauten und Sanierungen im Alpenbogen. Am nachhaltigsten baut, wer gar nicht baut. Bovets Lied lobt den Wert des Bestandes, den es – wo immer möglich und sinnvoll – zu erhalten gilt. Altbauten erzählen Geschichten. Wenn ein Gemeindehaus aus den 30-Jahren behutsam ertüchtigt oder eine Alphütte mit minimalen Mitteln instand gestellt wird, bleiben kollektive Erinnerungen wach. Wo sich die Zeiten gewandelt haben, kann ein geschickter Eingriff das Alte in ein Neues überführen. Aus einem Stall wird ein Theater, eine Scheune verwandelt sich in eine Totenkapelle, eine Stickereihalle transformiert zum Loft. So erleben wir das «vieux chalet» noch immer, auch wenn nicht mehr alles so ist wie früher.

Là-haut sur la montagne, croula le vieux chalet.
La neige et les rochers s'étaient unis pour l'arracher.
Là-haut sur la montagne, croula le vieux chalet.


Auch wenn manche davon immer noch nichts wissen wollen: Der Klimawandel, oder genauer die Klimakatastrophe, ist real. Keiner weiss das besser als die Menschen, die in den Bergen wohnen. Der «Schnee» und die «Felsen» waren schon immer ihre natürlichen Feinde. Doch heute ist die Situation dramatischer: Wenn im Dezember die Wiesen noch grün sind, wenn der Permafrost auftaut und die ewigen Berge sich bewegen, wenn im Frühling die Bäche anschwellen, dann gerät die Bergwelt aus den Fugen.

Ein Ziel der Alpenkonvention ist es, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Diese Konvention ist eine Übereinkunft von acht Alpenstaaten und der EU. Sie ist eine wichtige Plattform für einen alpenweiten Austausch und sie befördert konkrete gemeinsame Massnahmen, wie etwa den «Klimaaktionsplan». Und da die Dörfer so geplant und die Häuser so gebaut werden können, dass die Folgen für den Klimawandel überschaubar sind, ist daraus als konkrete Tat «Constructive Alps» entstanden. Der Wettbewerb zeigt auf, wie Bauherren und Architekten in den Bergen mit gutem Beispiel vorangehen. Und er stiftet so einen Diskurs unter Bauleuten von Nizza bis Ljubljana. Das heisst zuallererst: Baue mit lokalen Materialien. Mit dem Holz aus dem gemeindeeigenen Wald. Mit dem Granit aus dem nahen Steinbruch. Mit der Wolle der Schafe. Die Ökologie ist eine zentrale Messlatte, an der die Juroren die eingereichten Projekte beurteilten. In Bovets Chanson tritt die Natur als zerstörerisches Element auf, welches das Chalet dahinrafft. Sie holt sich zurück, was der Mensch ihr abgerungen hat.

Ökologische Verantwortung lehrt uns heute, die Kraft der Natur positiv zu nutzen. PV-Module ernten selbst im Tal die kosmische Strahlung, Erdsonden speichern auch auf 1000 Metern über Meer die Hitze der Sonnen im Boden, Wärmepumpen nutzen die Energie der Höhenluft. Die Gipfel spornen die Branche zu technischen Höchstleistungen an. Insbesondere die hochinstallierten Berghütten zeigen, wie man mit wenigen Ressourcen einen angenehmen Komfort erreicht – allerdings oft auf Kosten grauer Energie und dank der Helikopterflüge. Die Kraft der Natur liegt aber auch in althergebrachten Bautechniken, dessen Vorteile viele Architekten wieder entdecken. Sie stampfen Lehm, isolieren mit Stroh, rezyklieren Beton. Kurzum: Sie bauen mit der Natur statt gegen sie.

Là-haut sur la montagne quand Jean vint au chalet.
Pleura de tout son coeur sur les débris de son bonheur.
Là-haut sur la montagne quand Jean vint au chalet.


Die Berge und die Lebensformen derer, die dort wohnen wandeln sich, nicht nur was das Klima anbelangt. Ställe zerfallen, Dörfer entleeren sich, die Jungen ziehen ins Flachland, wo sie Weltluft schnuppern, mehr Möglichkeiten haben und fort sind von der Enge. Veränderung, so lernt Jean im Lied, ist schmerzhaft. Sie ist aber nicht unausweichlich. Manche Täler müssen akzeptieren, dass der Mensch fort zieht. Andere Regionen aber schaffen es dank engagierter Regional- und Entwicklungspolitik und der Solidarität der reichen Regionen im Flachland ihre Existenzgrundlage ins 21. Jahrhundert zu retten und das Sozialkapital zu stärken.
Die Jury suchte Orte, die die regionale Wertschöpfung stärken. Käser schliessen sich zusammen zur Genossenschaft und machen ihre Bioproduktion einem breiten Publikum zugänglich. Die Forstwirtschaft baut ein Zentrum, in dem öffentliche und private Initiativen das Holz hochhalten. Eine neue Seilbahn erschliesst einen Stausee, der Strom fürs Unterland erzeugt und dem Geschäft mit den Wanderern einen Schub gibt. Solche Projekte können dazu beitragen, dass sich Jeans Weinen in ein Lächeln umkehrt. Solange sein Chalet auf einem ökonomisch soliden Fundament gebaut ist, ist es nicht verloren.

Là-haut sur la montagne, l'est un nouveau chalet.
Car Jean d'un coeur vaillant l'a reconstruit plus beau qu'avant.
Là-haut sur la montagne, l'est un nouveau chalet.


«Constructive Alps» lehrt, Bauen als Chance zu begreifen, die Welt zu verbessern. Jean errichtet sein neues Chalet «schöner als vorher». Das sollte nicht nur baukünstlerisch, das muss auch gesellschaftlich verstanden werden. Vielleicht baut Jean ja gar kein Chalet mehr, in dem er alleine haust, sondern eine Siedlung oder ein Alterswohnheim. Die Jury hat viele Gebäude prämiert, die den Neuanfang des Bauens auch als Neuanfang der Gemeinschaft begreifen. Eine Schule bringt Kinder, Dorfmusiker und Vereinsmitglieder zusammen. Ein Mehrzweckgebäude vereint Tanzfreude und Konzertlust. Ein Supermarkt wird dank Bistro zum Treffpunkt.
Die Berge sind einsam, aber nicht verlassen. Häuser, die im Dienste der Gesellschaft stehen, beleben die Alpen. Das kann schon auf der Baustelle anfangen, wenn ein halbes Dorf die Ärmel hochkrempelt und eine Tribüne für den Fussballplatz errichtet. Das kann in staatstragende Würde geschehen, wenn ein Gerichtsgebäude die öffentlichen Institutionen in die Berge trägt. Architekten sind Optimisten. Sie glauben an eine bessere Welt, weil sie müssen. «Constructive Alps» zeigt, dass sie tatsächlich möglich ist.
 

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