«Energie ist ja so etwas wie der Stoffwechsel der Architektur. Sie zeigt sich als Sonnenlicht, Wärme, Kälte oder Luftbewegung.» Annika Seifert Fotos: Anja Wille
In Zusammenarbeit mit EnergieSchweiz

«Es geht darum, als Architektin relevant zu bleiben»

Annika Seifert unterrichtet an der Hochschule Luzern. Ihre Erfahrungen in Tansania helfen ihr, den Stoffwechsel der Architektur sichtbar zu machen. Morgen diskutiert sie an der Solaris-Veranstaltung mit.

Sie haben einige Jahre in Afrika gelebt und gearbeitet. Was hat Sie dorthin gelockt?
Annika Seifert: Gelockt hat mich meine Neugierde als Architektin, die Suche nach etwas Unbekanntem, nach Inspiration. Nachdem mein Partner Gunter Klix und ich an der ETH studiert und uns in namhaften Büros unsere Sporen abverdient hatten, haben wir uns gefragt: Und was jetzt? In der Folge haben wir unsere Jobs hier gekündigt und sind nach Tansania gezogen.

Die Architektinnen Anne Lacaton aus Paris und Barbara Buser aus Basel stehen beide für eine gesellschaftlich verantwortungsvolle Haltung. Ist es Zufall, dass beide in Afrika gelebt haben?
Sicher nicht. Auf dem afrikanischen Kontinent ist nicht nur das Klima komplett anders als unseres, es existieren auch völlig andere Vorstellungen von Komfort und von Notwendigkeit. Ein Grossteil der Bevölkerung lebt unter sehr einfachen Bedingungen. Raumfragen stellen sich darum ganz anders. Das zu erleben, prägt dich nachhaltig, und nach deiner Rückkehr stellst du den vertrauten Kontext infrage. Die räumlichen Gewohnheiten erscheinen plötzlich weniger zwingend.

2012 erhielten Sie das Forschungsstipendium des Bundes Schweizer Architekten. Daraus entstand das Büchlein ‹Hitzearchitektur. Lernen von der afrikanischen Moderne›. Die übliche Sichtweise ist ja die: Seit dem Einzug der Moderne lösen wir alle Heiz- und Kühlfragen mit Technik und viel Energie. Traditionelle und vernakuläre Lösungen gingen vergessen. War das in Afrika anders?
Auch Häuser in Indien oder Südamerika gehen ganz anders mit den klimatischen Gegebenheiten um. Als die Moderne im globalen Süden Einzug hielt, waren diese Länder meist weniger entwickelt, auch ihre Versorgung mit Strom und anderem. Häuser wurden oft sehr einfach gebaut. Anders als bei uns ging es bei der tropischen Moderne nicht um technische Maximierung, sondern um eine moderne Formen- und Raumsprache mit einem Lowtech-Ansatz.

Im Buch steht, zur Verantwortung der Architekten zähle es, dem Thema Nachhaltigkeit so weit wie möglich mit architektonischen Mitteln zu begegnen. Was heisst das?
Als europäische Architektin machst du einen Entwurf, und den bringt dann eine Schar Fachplaner zum Funktionieren. Die Tragstruktur denken wir in der Schweiz noch ganz gut mit, aber spätestens bei der Haustechnik gibt es das grosse Nachrüsten. In Ostafrika haben uns historische Gebäude begeistert, die mit architektonischen Mitteln auf das Klima reagieren, und damit meine ich: mit Teilen des Baukörpers. Das bedeutet einerseits, dass sie mit einem Minimum an Gebäudetechnik auskommen, andererseits, dass der Entwurfsprozess zielgerichtet und ganzheitlich ist. Die Zusammenarbeit mit den Fachplanern darf keine Aufeinanderfolge von Störungen sein. Je mehr wir Architekten antizipieren, was die Technik sonst später ausbaden muss, desto besser ist es für unser Projekt. Auch in entwerferischer Hinsicht.

Eine Arbeit von Fabio Isler an der HSLU, Fokus ‹Architecture and Energy›, geleitet von Annika Seifert, Luca Deon und Gunter Klix.

Der Student beschäftigte sich mit der traditionellen Bauweise. Die Dachlandschaft der Lehmziegelbauten prägen Sonnensegel mit einer leichten Stahlstruktur.

An der HSLU leiten Sie zusammen mit Luca Deon und Gunter Klix den Fokus ‹Architecture and Energy›. Was machen Sie dort?
Wer an der HSLU im Master studiert, wählt zwischen drei Entwurfsstudios. Unseres hat den Schwerpunkt Energie. Die Entwurfsaufgaben stellen wir abwechselnd im Ausland – so zum Beispiel in Südafrika, Mexiko oder Ägypten – und in der Schweiz. Unser Lehrteam ergänzt sich dabei ziemlich gut, einerseits mit Gunter und mir als Paradiesvögeln mit soliden Schweizer Grundlagen und andererseits mit Luca als in der lokalen Praxis verankertem, aber sehr weltoffenem Generalisten.

Was sollen die Studierenden beim Arbeiten in einer anderen Klimazone lernen? Wird nicht ein Grossteil von ihnen später in der Schweiz bauen?
In unserem Masterprogramm unterrichten wir eine internationale Gruppe von Studierenden. Die Hälfte kommt aus Indien, Japan, China, Brasilien, Spanien oder Italien. Es gibt ausserdem eine didaktische Antwort: Wir beschäftigen uns nicht nur mit dem klimatischen, sondern auch mit dem soziologischen und kulturellen Kontext, da wir viel mit Typologien arbeiten. Sobald wir Raumprogramme infrage stellen, spielt die Kultur der Nutzer eine grosse Rolle. Wir sind ja oft in Konventionen gefangen. Mit unserem Vorwissen, wie die Welt funktioniert, fehlt uns oft der Mut, die Dinge radikal zu hinterfragen.

Sie fliegen mit dem gesamten Kurs für wenige Tage nach Südafrika. Ist das nicht ein Widerspruch in einem Kurs, der sich um Nachhaltigkeit dreht?
Doch, das ist ein Punkt, den wir selbst diskutieren. Wir hatten uns eigentlich schon vor Südafrika entschieden, Orte zu wählen, die mit dem Zug erreichbar sind. Nach Kapstadt sind wir trotzdem, weil die HSLU eine Partnerschaft mit der Cape Town University anstrebt. Das war also eine Art Hochschulmission. In Zukunft werden wir Studienreisen mit dem Zug antreten.

Die Aufgabe: ein ‹Urban Lab Building› in der Township Delft. Die aktuelle Wasserkrise von Kapstadt bildet den Ausgangspunkt des Entwurfs.

Die riesige Kondensationskuppel von Fabian Huber verbindet das Bauen an einem unbebaubaren Ort mit Wasseraufbereitung, sozialem Kontakt und mit – Schönheit.

Neben Typologie und Konstruktion spielt an Ihrem Entwurfsstudio die Atmosphäre eine Rolle. Ein ungewöhnlicher Begriff bei Energiefragen.
Energie ist ja so etwas wie der Stoffwechsel der Architektur. Sie zeigt sich als Sonnenlicht oder Wärme, Kälte oder Luftbewegung und prägt die Atmosphäre der Räume massgeblich. Um das zu zeigen, arbeiten wir mit der Zürcher Künstlerin Esther Mathis zusammen. Sie ist Fotografin und beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Licht und feinen Bewegungen wie Flimmern, Spiegelungen oder Reflexionen. Mit ihr erarbeiten unsere Studierenden Filmsequenzen, wir nennen sie ‹Breathing Images›, in denen Veränderungen durch einen Raum huschen, wie Mimik über ein Gesicht: ein Windhauch, der Sonnenstand oder der Schatten einer Wolke. Sie vermitteln ein Gefühl für die klimatische Atmosphäre.

Energie verbindet man sonst mit trockenen Zahlen und Berechnungen. In welchem Verhältnis steht das zum kreativen Arbeiten in Ihrem Kurs?
Es ist schwierig, den Studierenden zu sagen: So, ihr macht jetzt klimagerechte Architektur. Damit sind sie überfordert, denn es ist so weit weg von dem, was sie bisher gelernt haben. Deswegen betrachten wir in jedem Semester einen spezifischen Schwerpunkt. In Ägypten haben wir uns mit Hitze beschäftigt, bei Hochhäusern in Zürich stand die natürliche Belüftung im Fokus, in Kapstadt war das Thema ‹Wasser als Ressource›, aktuell interessiert uns die graue Energie. Wir ziehen passende Experten hinzu. Die Studierenden müssen sich mit technischen Grundlagen befassen und gewisse Dinge nachrechnen, um ein grundlegendes Verständnis zu entwickeln. Daraus können sie ihre architektonischen Konzepte schöpfen oder zumindest strategisch ihren Entwurfsprozess begleiten.

Was ist Ihre Motivation, sich mit solchen Themen zu beschäftigen?
Ich glaube, die Vorstellung einer Architektur, die sich zuallererst nach ästhetischen Gesichtspunkten richtet, hat sich totgelaufen. In Zeiten von Ressourcenknappheit, Klimawandel und Biodiversitätskrise müssen wir Architekten den Komplexitätsgrad unseres Denkens erhöhen. Wir können weiterhin als Gestalterinnen und Ästheten agieren, wenn wir aber nicht in Schönheit sterben wollen, müssen wir auch andere Beurteilungskriterien und Argumentationswege beherrschen.

Ist die Ästhetik der Türöffner zu den ungeliebten Nachhaltigkeitsthemen?
Fortschrittlichere Kolleginnen sehen in der Beschäftigung mit solchen Themen das Versprechen eines ästhetischen Gewinns. Das finde ich richtig, und das haben wir anfangs auch betont. Aber mehr und mehr frage ich mich: Müssen wir das immer wieder beschwören? Brauchen wir eine Rechtfertigung, um uns mit Energiefragen zu beschäftigen? Wir versuchen eine Argumentationskultur zu pflegen, die vielschichtiger ist. Das Interesse an der Postmoderne ist neu erwacht, Venturi wird wieder gelesen, aber Komplexität ist in unserer Disziplin ja nicht rein visuell, sondern viel umfassender. In der Lehre versuchen wir nicht, die aktuelle Berufspraxis abzubilden, sondern ein zukünftiges Berufsbild zu antizipieren. Da muss es uns doch darum gehen, als Architekten gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Auch, um relevant zu bleiben.

Dieser Beitrag ist dem Heft Solaris #04 entnommen, im August 2020 erschienen in Hochparterres Heftreihe für Solararchitektur.

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