Der Journalist Gerhard Matzig ist Leitender Redakteur und Architekturkritiker der ‹Süddeutschen Zeitung›. Für seine Essays und Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt er den DAI-Literaturpreis. Fotos: Peter von Felbert

«Ein Lob auf den Schatten»

Die Betrachtung von Licht und Schatten führt das ungleiche Paar durch Philosophie, Popkultur und Architektur und ergründet, weshalb die beiden ohne einander nicht können.

Licht und Schatten: Ein gegensätzlicheres und asymmetrischeres Paar ist nicht denkbar in der Geschichte der Menschheit. Sie sind einander auf verstörende Weise fremd. Kain und Abel sind dagegen das reinste Liebespaar, David und Goliath sind im Vergleich dazu Waffenbrüder – und Dick und Doof sind insofern fast schon siamesische Zwillinge. Für Licht und Schatten aber kommt jede Paartherapie zu spät. Scheinbar.

Wobei man wirklich – und zwar im Wortsinn – nicht behaupten kann, dass das Dunkel auf die Sonnenseite des Lebens gefallen wäre. Die Sphäre der Lichtlosigkeit, die Schwärze, das Finstere und das Dunkel, für die es so viele Worte gibt, die düster sein kann, schummrig, rabenschwarz, kohlrabenschwarz, zwielichtig, duster oder gar zappenduster, die einem delphisch oder sibyllinisch erscheinen mag, dazu abgründig, okkult, undurchdringlich oder dämonisch, ja satanisch, auf jeden Fall verdächtig, suspekt, ominös, obskur und eben ganz und gar undurchsichtig: All das wurde von Anfang an ins Unrecht gesetzt. Für den Begriff ‹dunkel› gibt es tausendundeine raunende Entsprechung. Das Wort ‹hell› aber genügt sich fast selbst. Sonnenhell, licht, lichtdurchflutet, lichterfüllt … und dann wird es auch schon wieder dunkel um das glockenhelle Wort. Das Licht muss man offensichtlich nicht erklären. Es strahlt aus sich selbst heraus. Das Licht ist gut, es ist das Ziel allen Seins. Das Schattenreich aber ist böse und somit nur das, was zu überwinden ist: Die Sonne bringt es an den Tag. Nachzulesen ist das schon in der Genesis, der Schöpfungsgeschichte: «Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Und Gott sprach: ‹Es werde Licht!›» Damit waren die Rollen verteilt. Good Cop: das gute Licht und alles, was da strahlt und leuchtet im Hellen. Bad Cop: das böse Dunkel und alles, was da lauert und darbt im Dunklen. Seither ist zumindest in westlichen Kulturen der Tod schwarz und das Leben weiss.

Von Solarien und Hieroglyphen

Hieroglyphische Inschriften der Ägypter bezeugen exakt das, was in modernen Solarien auch zu lesen ist: dass die Menschen bei Sonnenschein (oder wahlweise auch auf der Sonnenliege mittels ‹Collagen-Beauty-Light mit UV-Licht›) «glücklich sind, dass sie schöner werden und sich freuen». Und während Plotinus als Philosoph und Neubegründer des Platonismus im dritten Jahrhundert die Schönheit des Feuers und des Blitzes eben ihrer Helligkeit und des Sieges über die Dunkelheit wegen verehrt, schreibt Friedrich Schiller im späten 18. Jahrhundert, dass «alle Wesen vom Licht leben». Kurz: Das Unheilvolle ist dunkel, und die Hoffnung ist stets das Licht am Ende des Tunnels. Es ist schliesslich auch der ‹dunkle Lord› Darth Vader in seiner schwarzen Rüstung, der sich im Star-Wars-Epos verführen lässt von der finsteren Seite der Macht. Seit der Schöpfungsgeschichte ist es wunderbar einfach geworden, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Der Storenschalter macht den Unterschied.

Einmal allerdings wollte man diese Geschichte umdeuten. Was gründlich schief gegangen ist. Vor einiger Zeit hat sich das deutsche Umweltministerium eine Kampagne zur Energieeffizienz einfallen lassen, in der die göttliche Schöpfungsgeschichte von Platons Höhlengleichnis über das ‹finstere Mittelalter› bis hin zum ‹Licht der Aufklärung› und ‹der Fackel der Wahrheit› endlich einmal genau anders herum interpretiert wird. Sie läuft sozusagen darauf hinaus: ‹Licht aus!› Aber Gott und das Kinopublikum, das mit diesem Spot des Ministeriums malträtiert wurde, sahen, dass es nicht gut war. Aber wirklich nicht.

Der Spot also: Ein halbwüchsiges Mädchen kommt spätnachts von irgendeiner Party nach Hause. Es schleicht sich durch das dunkle Haus der Eltern. Man vernimmt seltsame Geräusche. Und dann, im Wohnzimmer, betätigt die Tochter schockartig den Lichtschalter, um ihre Eltern am Sofa in verfänglicher Situation vorzufinden: Er hat die Hosen unten, sie hat den Rock oben – und der Rest ist eine unfassbar peinliche Stille. Die Scham senkt sich über die Erde, das Publikum und auch das Umweltministerium. Bis wir erlöst werden. Das Mädchen macht endlich das Licht aus, und alles ist gut. Bloss nicht den eigenen Eltern beim Sex zusehen müssen. «Die Welt sagt danke – zusammen ist es Klimaschutz», heisst der Spot. Zu sehen ist er immer noch auf Youtube. Versehen mit zahlreichen boshaften Kommentaren. Die Lehre daraus, dass das Dunkel auch seine erhellenden Seiten haben kann, lichtspartechnisch etwa oder elternspezifisch, wurde von der Allgemeinheit seinerzeit mit sehr viel Hohn und nahezu schwarzem Sarkasmus aufgenommen.

Werden und vergehen

Es ist kein Wunder, dass die Zuschreibungen von Licht und Schatten quer durch alle Kulturgeschichte, durch Philosophie, Theologie, Literatur, Musik, Kunst, Architektur und natürlich Pop oder Kino, als so unverrückbar zugunsten des Lichts erscheinen. Seit der Vorgeschichte wurde das Licht bis hin zu seiner religiösen Apotheose in allen Glaubensrichtungen kultisch verehrt. Das Dunkel dagegen wurde gefürchtet. Im Dunkel begegnet uns immer auch ein Stück Archaik. Aber das eine bedingt das andere: Licht und Schatten sind tatsächlich undenkbar ohne die Existenz des jeweils anderen.

Im Denken des Philosophen Martin Heidegger ist diese Symbiose dargestellt im Prozess des ‹Werdens und Vergehens›. Das aber zielt letztlich auf die Einsicht, dass die Dimension der Zeit undenkbar ist ohne das Wechselspiel von Licht und Schatten. Das Erscheinen (die Morgendämmerung) und das Fortgehen (die Abenddämmerung), das Näherkommen und Entfernen, das Geborenwerden (‹Licht der Welt›) und das Sterben (Goethes angeblich letzte Worte: «Mehr Licht!»), das Eintreten in das Offene, somit Helle, und Fortgehen ins Verborgene, somit Dunkle, all das, die Bewegung, Transformation und evolutorische Veränderung, jegliche Dynamik also, materialisiert sich Heidegger zufolge im Aufsteigen und Untergehen des Lichts. Der Erdentag in der natürlichen Abfolge von Sonnenlicht und Nachtschwärze ist daher nicht nur die Grundbedingung der Zeit und ihrer Dynamik, sondern auch der Dingwelt in ihrer Statik. Bei Le Corbusier liest sich das so: «Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen: Licht und Schatten enthüllen die Formen.»

Aus dem Zusammenspiel von Helligkeit und Dunkelheit ergeben sich demnach sowohl die Dimension der Zeit als auch die des Raums. Erst der Schatten im lichtdurchfluteten Raum lässt uns die Geometrie des Raums begreifen. Und erst im Durchschreiten des Raums wird uns bewusst, dass Raum und Zeit einander bedingen. Licht und Schatten sind deshalb auch die elementarsten Urformen der Architektur und Stadtbaukunst. Ihr Wesen fällt zusammen mit dem Wesen des Bauens selbst.

Verlust der Nacht

Deshalb ist es letztlich erstaunlich, dass die Baugeschichte zunächst vor allem auf die Überwindung der Dunkelheit und auf die einseitige Feier des Lichts gerichtet ist. Goethes Verlangen nach ‹mehr Licht›, so es denn wirklich seine letzten Worte in der Stunde des Todes gewesen waren, was zumindest umstritten ist, liesse sich als Überschrift über die Epoche der baukulturellen Moderne setzen. Aber schon seit im siebten Jahrhundert erstmals Glasfenster in Syrien und England auftauchten, erlebt die Architektur eine Hinwendung zum Licht. Erst wurden die Burgen befreit von ihrer Düsternis, später öffneten sich die Kathedralen zu jenem Licht, das auch jetzt wieder, in der dunklen Hälfte des Jahres, als einzigartiges Versprechen erscheint. Jesu Geburt markiert nicht zufällig den Tag, da die Sonne wieder mächtiger wird im Winter. Von nun an geht es im atemberaubenden Tempo weiter bis in die Moderne hinein, da die Städte erleuchtet werden von der aufkommenden Elektrizität. Le Corbusier feiert das taghell erleuchtete Manhattan als «eine Milchstrasse auf Erden».

Heute sind es am Ende solcher Feierlichkeiten bereits der ‹Lichtsmog› und der ‹Verlust der Nacht›, die Sorge bereiten. Das elektrische Licht besiegt gleichwohl die Nacht in den Städten, während sich die Architektur immer weiter öffnet zum Tageslicht. Das gelang mithilfe einer immer gläserner werdenden Architektur, die sich mehr und mehr jenem Ideal des ‹Kristallpalasts› annäherte, wie er, gebaut nur aus Gusseisen und Glas, seit der Weltausstellung in London von 1851 die Ära einer technologisch auftrumpfenden Moderne zeichenhaft überstrahlt. Bis zur Erfindung des ‹transluzenten Betons› war es dann auch nicht mehr weit. Das ist der Stand der Dinge: eine Betonwand, die aber keine Wand mehr sein darf, weil sie mit dem Fenster in der Wand, das kein Fenster mehr sein darf, zur Deckung gelangt.

Unsere Dekade in Architektur und Städtebau ist die der Entmaterialisierung. So licht und gläsern aber sind unsere Häuser und Städte nunmehr geworden, so ‹lichtdurchflutet› gar (ein Hauptwort der Immobilienwerbung), so transluzent und transparent und durchsichtig und durchscheinend oder auch taghell erleuchtet mitten in der Nacht, dass man sich fragen könnte: Was ist eigentlich aus dem ‹Lob des Schattens› geworden? Zur Erinnerung: Das ist ein Essay aus dem Jahr 1933, der die Schönheit der japanischen Architektur mit dem Wechselspiel von Licht und Schatten erklärt. Ob man die Bauten von Le Corbusier studiert, der im Kloster Le Thoronet notiert: «Licht und Schatten sind die Lautsprecher dieser Architektur der Wahrheit» – oder ob man Louis Kahns Lehre auch in zeitgenössischen Beispielen der Baukunst nachspürt, wonach sich die Sonne ihrer Wunder nicht bewusst sei, «bevor sie auf die Wand eines Bauwerks fällt»: Licht und Schatten sind ein unzertrennliches, ewiges und schönes Paar. Wenn die Architektur unserer Zeit eine Aufgabe hat, dann die, sich ihrer wunderbaren Schattenseiten endlich wieder gewiss zu werden. Das Licht ist einsam ohne Schatten.
 

 

 

 

Dieser Beitrag stammt aus dem Themenheft Schatten im besten Licht der Zeitschrift Hochparterre. In Zusammenarbeit mit Kästli Storen.

 

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