Heutige Architektur mit Anleihen beim Gestern – Bilder aus dem aktuellen Schweizer Wettbewerbs- und Hochschulwesen: Spazzia per la didattica, Accademia di architettura, Mendrisio, Wettbewerbsbeitrag von architecten de vylder vinck taillieu, 2015

Ein Gefühl namens Retrophilie

Brutalismus-Revival hier, Comeback der Postmoderne dort. Und schon kündigt sich die Wiederentdeckung der Neunzigerjahre an. Versinkt die Architektur in ihrem eigenen Archiv?

Letzthin stiess ich in einem Antiquariat zufälligerweise auf die Autobiografie von Frank Lloyd Wright. Den amerikanischen Architekten, der von den Chronisten der Moderne in einem Atemzug mit Mies van der Rohe und Le Corbusier genannt wird, kennt die Allgemeinheit als Schöpfer des New Yorker Guggenheim-Museums, aber wichtiger und folgenreicher waren wohl seine Wohnhäuser, die sich in die Weite der amerikanischen Landschaft ausstreckten, um sich mit dieser in einer grossen, horizontalen Geste zu vermählen. So natürlich wie revolutionär.Die Lektüre des Buchs war eine eigenartige Erfahrung: Ich staunte nicht über Wrights Ideen, aber ich staunte, wie fremd sie uns geworden sind. Als er 14 Jahre alt war, so erinnert sich Frank Lloyd Wright, las er einen Text, der seinen Sinn für Kunst und Architektur auf Lebzeiten prägen sollte: das Kapitel ‹Ceci tuera cela› aus Victor Hugos Roman ‹Notre-Dame de Paris›, für Wright «der brillanteste Essay, der bisher über Architektur geschrieben wurde». Besonders angetan hatte es ihm Hugos Charakterisierung der Renaissance als «Sonnenuntergang, den ganz Europa für eine Morgendämmerung hielt». Den auf die Renaissance zwangsläufig folgenden, «tragischen Verfall der grossen Mutterkunst Architektur», von Hugo in einer ausschweifenden kulturgeschichtlichen Reflexion umrissen, fasst Wright in einem Satz zusammen: «Nach 500 Jahren gründlicher Nachbildung klassischer Säulen, Giebel und Friese lag schliesslich alles im Sterben.» Die Renaissance als Anfang eines Niedergangs, die Säule als Tod der Baukunst? Das kommt einem heute seltsam, ja fast schon blasphemisch vor. Im Wright’schen Denkmuster aber hat die Argumentation ihre Logik. «Erst später», schreibt er, «erkannte ich, dass Victor Hugo im weiten Bogen seines grossartigen Gedankens nur die Wahrheit bestätigte: Kunst kann keine Nachbildung sein.»Sechzig Jahre nachdem Frank Ll...
Ein Gefühl namens Retrophilie

Brutalismus-Revival hier, Comeback der Postmoderne dort. Und schon kündigt sich die Wiederentdeckung der Neunzigerjahre an. Versinkt die Architektur in ihrem eigenen Archiv?

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