Der Traum vom Schneckenhaus

In Riehen baut ein Ingenieur für seine Familie ein Wohnhaus, das auf zwei Lastwagen Platz hat. Mobile Architektur fasziniert, bleibt aber ein Widerspruch in sich.

Fotos: Weisswert

In Riehen baut ein Ingenieur für seine Familie ein Wohnhaus, das auf zwei Lastwagen Platz hat. Mobile Architektur fasziniert, bleibt aber ein Widerspruch in sich.

Nico Ros will sich nicht festlegen. Der Bauingenieur steht im Garten seines Elternhauses, in einem Reihenhausquartier in Riehen. Unter seinen Turnschuhen knirscht heller Kies. Ein Weg schlängelt sich zwischen Bäumen hinab zu einem eingeschossigen Glaspavillon, der zunächst nicht weiter auffällt. «Es ist schwierig, das Leben vorauszusagen», sagt Ros. «Wer weiss schon, was in fünf Jahren ist?» Seine Frau kommt aus den USA, wo die Menschen ortsunabhängiger leben als in der Schweiz. Also beauftragte Nico Ros Rahbaran Hürzeler Architekten, ein ‹movable house› zu entwerfen. Wie eine Schnecke will er sein Haus mitnehmen, die Immobilie zur Mobilie machen. Vor drei Tagen sind die beiden mit ihren zwei Kindern und achtzig Zügelkisten aus der Basler Altstadt nach Riehen gezogen, von 130 auf 100 Quadratmeter.

Transportable Häuser sind so alt wie die Menschheit. Trotz der Sesshaftigkeit bleiben wir als Jäger und Sammler programmiert. Seit hundert Jahren haben Architekten viel und wirr geträumt von einer flüchtigen Baukunst, von ‹fliegenden Bauten›, wie sie in Deutschland offiziell heissen. Obwohl ihre Prototypen gescheitert sind, fanden sie immer wieder neue Gründe, warum nun die Zeit dafür reif sein soll.

1931 gewann Otto Bartning den Wettbewerb für ‹Das wachsende Haus›, indem er die Leichtbauweise und die Vorfabrikation auf die Spitze trieb. Auf die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg antwortete Jean Prouvé mit seinen ‹portiques›, während Konrad Wachsmann und Walter Gropius in Kalifornien das ‹Packaged House› entwickelten. In der Ära der Raumfahrt tüftelte Richard Buckminster Fuller an Wohneinheiten, die wie Ufos irgendwo landen sollten. Nach der Ölkrise ersannen Öko-Architekten autarke Kapseln, mit denen sie zurück zur Natur fahren wollten. Heute planen Erdenaussteiger Module, in denen die Menschen dereinst auf dem Mars wohnen sollen.

Alle Fantasie kann nichts daran ändern: Architektur ist elementar lokal. Mobile Häuser sind fast nur in temporären oder prekären Situationen zu finden: Märkte, Messen, Provisorien einerseits, Notunterkünfte, Container-Siedlungen für Geflüchtete andererseits. Massentauglich wurde das fahrbare Haus einzig mit dem Caravan. In den USA wohnen 20 Millionen Menschen ein Leben lang im Camper. Doch das Wohnmobil ist – der Name sagt es – ein bewohnbares Gefährt, keine bewegliche Immobilie.

 

 

Entwerfen ohne Kontext

Nico Ros schiebt die Eingangstür auf und betritt ein winziges Entrée, das auch Garderobe ist. Eine Drehtür führt in einen zentralen Rundraum. Wer mobil plant, muss mit allem rechnen. Rahbaran Hürzeler wussten lange nicht, wo das Haus einmal errichtet würde. Sie entwarfen ohne Kontext. Das Resultat ist eine selbstbezogene Architektur, die – so lautete der Auftrag – «im Wald, auf freier Wiese oder in der Stadt» stehen könnte: quadratischer Grundriss, rundum verglast.

Ein Rundraum verbindet vier Zimmer in der Mitte.

Mobil heisst: vorfabriziert. Das Gebäude besteht aus fünf Bodenplatten und fünf Deckenelementen aus Beton. Vier Holzmodule tragen das Dach, bilden die Wände und unterteilen den Grundriss in vier Zimmer, die ein kreisrunder Raum in der Mitte verbindet. Die Module nehmen das Entrée, ein Bad, eine Gästetoilette und die Küchenfront auf. Mobil heisst zweitens: platzsparend. Das Haus misst zehn mal zehn Meter, ein Längenmass, dass gut transportierbar ist. Der ganze Bausatz passt auf zwei Lastwagen. Der Grundriss verliert keinen Platz, 97 der 100 Quadratmeter sind Nutzfläche. Da die Architektinnen die Nebenräume geschickt komprimieren, wirkt das Haus dennoch luftig. Mobil heisst drittens: demontierbar. Die Bodenplatten liegen nur auf, die Fugen dazwischen sind offen. Schrauben fixieren die Dachelemente in den Holzmodulen, ähnlich wie bei einem Ikea-Möbel. Die Leitungen, die aus dem Rundraum in die Module führen, können abgehängt werden – die Kopplung ist sichtbar. Es gibt keine Fussleisten, keine Malerarbeiten, nichts wird addiert. «Mehr weglassen kann man kaum», sagt Nico Ros. Trotzdem wirken die Räume wohnlich und wertig.

Die vier Holzmodule unterteilen den Grundriss und nehmen die Nebenräume auf.

 

 

Das Versprechen der Freiheit

In den letzten Jahren erschien eine Flut an Büchern über ‹Mobitecture›, ‹Portable Architecture›, ‹Homes on the move›, ‹Nomadic homes›, ‹Nanotecture› oder ‹Micro Architecture›. ‹Downsize› nennt sich eine Bewegung, deren Anhänger ihre Wohnfläche auf das Nötigste gesundschrumpfen. Im April 2018 wurde gar der Verein für innovative Kleinwohnformen Schweiz gegründet, der Minihäuser, Wohnwagen, Baumhäuser, Hausboote oder Jurten als anerkannte Wohnformen etablieren will.

Das Versprechen der mobilen Architektur bleibt dasselbe wie früher: Freiheit. Ungebunden, ortsunabhängig, nirgendwo verpflichtet. Das Unstetige, Flüchtige passt zum Zeitgeist der digitalen Nomaden, deren Hier-und-Jetzt meist ganz woanders ist. Hinzu kommt die Sorge um die Klimakatastrophe. Wenn die Flüsse überfluten, der Hang abrutscht oder der Orkan wütet: Dann zieht man einfach weg mit Hab und Haus, inklusive Trocken-WC und Solaranlage. Doch was als ökologische Rückbesinnung auf das Wesentliche verkauft wird, ist nichts anderes als der Hüsli-Traum für Nonkonformisten. Minihäuser klingen sparsam, sind aber wie jedes Einfamilienhaus. Sie verbrauchen mehr Energie, mehr Infrastruktur, mehr Boden pro Person als Mehrfamilienhäuser.

 

 

Konstruktive Experimente

Nico Ros lehnt sich zurück im Eames Lounge Chair, der im Rundraum vor dem Büchergestell steht. Ros ist weder Aussteiger, noch fürchtet er den Klimawandel. «Ich bin räumlich anspruchsvoll», sagt der Bauingenieur. Er leistete sich Carrara-Marmor im Beton, edle Fliessen im Bad, Möbel von bekannten Designern. Der Ingenieur ist Mitglied der Geschäftsleitung bei ZPF Ingenieure und leitet das Team, das in Zürich das Tragwerk des Kinderspitals von Herzog & de Meuron plant. Nico Ros konstruiert Häuser, die hundert Jahre und mehr überdauern. Als eigener Bauherr hatte er andere Pläne. «Wir wollten einfacher bauen, mit weniger Schichten als üblich.»

Das Möbel ist die Tragstruktur: Regale aus vier Zentimeter dünner Baubuche tragen das Dach.

Der Bauingenieur wagte allerlei konstruktive und haustechnische Versuche. Alles Holz, das man sieht, trägt. Die Module sind aus Baubuche konstruiert, ein hochbelastbares Furnierschichtholz. Nur vier Zentimeter schlanke Regalwände stützen das Dach, stabilisiert mit den Regalböden. Das Möbel ist die Tragstruktur. Die Betondecke, die an den Gebäudeecken fünf Meter auskragt, misst bloss sechs Zentimeter, um Gewicht und Material zu sparen. Damit die Temperatur im Glaspavillon nicht schwankt wie in einem Zelt, sind im Fundament Wachsmodule integriert. Sie speichern Wärme und Kälte hundert Mal besser als Beton. «Trotz Hitzesommer und obwohl die Vorhänge noch fehlten, war die Temperatur angenehm», sagt Ros. Energetisch funktioniert das Haus nahezu autark. Die Wärmepumpe arbeitet mit einem kleinen Erdregister, das sich drei Meter unter dem Vorplatz durch den Boden schlängelt. PV-Module auf dem Dach liefern den Strom, mit dem Ros im Sommer auch sein Elektroauto tankt. «Das Haus ist ein Experiment», sagt er. «Wir haben vieles auf die Spitze getrieben.» Forscher der Fachhochschule Nordwestschweiz überwachen das Gebäude mit Sonden. Im Rahmen eines Innosuisse-Projektes prüfen sie, ob sich die Decken- und Bodenelemente langfristig bewähren.

 

 

Ein fundamentales Problem

Es dauerte nur zehn Tage, um das Elementhaus aufzurichten. Erdarbeiten, Kanalisation und Fundament aber brauchten zwei Monate, obwohl das Haus keinen Keller hat. Vermeintlich mobile Bauten haben ein fundamentales Problem: der Unterbau, der sie am Ort verankert. Auch ein Holzhaus steht auf einem massiven Sockel. Zudem braucht ein Gebäude Anschluss: an Wasser, Abwasser, Strom, Internet, Wärmenetz. All das kann den Preis für ein Fertighaus schnell verdoppeln. Nico Roos gab 450 000 Franken aus für das Gebäude – das Land, den Aushub und den Planungsaufwand nicht mitgerechnet. (Ein Video zeigt, wie das Haus zusammengesetzt wurde.)

Boden- und Deckenplatten sowie vier Holzmodule wurden in zehn Tagen aufgerichtet.

Das idyllische Bild vom Hüsli im Irgendwo ist auch rechtlich ein fragwürdiges Versprechen. Anlagen mit einer «festen Beziehung zum Erdboden», die länger als zwei Monate stehen, benötigen in der Schweiz eine Baubewilligung, so auch das Haus in Riehen. Und wer ein Haus abstellen will, braucht Platz. Roma und Sinti können ein Lied davon singen. Boden ist ein knappes Gut und darum teilweise teurer als das Haus darauf. Das merkte auch Nico Ros. Er hat lange nach einem Grundstück gesucht und es schliesslich im Garten seines Elternhauses gefunden. Welche Ironie: Das Haus, das überall hinpasst, steht nun dort, wo Ros aufgewachsen ist.

Mobil ist ein Konzept, aber nicht Realität. Das gilt für fast alle beweglichen Bauten. Helikopter fliegen Unterstände auf Berggipfel, und Fertighäuser rollen aus Deutschland in die Schweiz. Einmal an Ort und Stelle sind Häuser auffallend sesshaft. Selbst Modulbauten, gedacht für den Transport, bleiben meist Jahrzehnte unbewegt. Ein Haus zu verschieben, ist ein Kraftakt: 2012 dauerte es 19 Stunden, um das 6200 Tonnen schwere ehemalige Direktionsgebäude der Maschinenfabrik Oerlikon sechzig Meter zu verrücken. Das Gebäude zu erhalten, kostete fast so viel, wie es wert war. Auch ökologisch werfen mobile Bauten Fragen auf. Isolation und Haustechnik machen aus fast jedem Gebäude ein Nullenergie-Haus. Der Fokus liegt heute zunehmend auf der grauen Energie, die nötig ist, um die Baumaterialien herzustellen und zu transportieren. Und nun sollen sich ganze Häuser bewegen lassen?

Nico Ros weiss, wie unwahrscheinlich es ist, dass er sein Haus mitnehmen wird. «Die Mobilität ist eine Option, kein Zwang.» Vielleicht werde es sein Vater als Stöckli nutzen, vielleicht wird es abgebrochen und die Materialien werden dann weiterverwendet. Ros’ Schneckenhaus unterscheidet sich markant von üblichen ‹Downsize›-Häusern. Der architektonische Anspruch ist hoch, die Konstruktion ausgeklügelt. Am Ende verstrickt er sich aber im gleichen Widerspruch wie alle bewegliche Architektur: Häuser sind Immobilien.

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