Das multifunktionale Exoskelett

Ein Ensemble aus vier öffentlichen Gebäuden für das Ökoquartier ‹Les Vergers› in Meyrin bei Genf gewinnt den Seismic Award 2021.

In Zusammenarbeit mit der Stiftung Baudyn

Ein Ensemble aus vier öffentlichen Gebäuden für das Ökoquartier ‹Les Vergers› in Meyrin bei Genf gewinnt den Seismic Award 2021.

Die Gemeinde Meyrin, die das Ökoquartier ‹Les Vergers› – französisch für ‹die Obstgärten› – initiierte, bezeichnet es als «audacieux», kühn. Rund 3000 Menschen finden hier ein neues Zuhause. Vier frei stehende, pavillonartige Gebäude mit öffentlichen Einrichtungen funktionieren als Quartierzentrum, in dem Bewohnerinnen und Bewohner aller Altersgruppen sich begegnen können. Sie sind aus einem Wettbewerb hervorgegangen, den Sylla Widmann architectes mit B + S ingénieurs conseils, beide aus Genf, gewonnen haben. Das 2018 fertiggestellte Ensemble dient dem Primarschulunterricht, ist aber auch für vielerlei ausserschulische Aktivitäten nutzbar. Es umfasst eine Doppelturnhalle, eine Aula mit 300 Plätzen, ein Restaurant, die Wohnung des Hauswarts und eine Zivilschutzanlage.

Das Exoskelett
Das Exoskelett, im Schnitt und in der Ansicht dargestellt, leitet die Horizontalkräfte über das Kellergeschoss (Schnitt links) in das Erdreich ab.


Die Kraftübertragung
Die erste Spalte zeigt die Übertragung von Horizontal- und Torsionseinwirkungen in das Exoskelett, die zweite Spalte die jeweils wirksamen Verbindungen zwischen dem Kern und dem Exoskelett, die dritte Spalte die Ableitung der Kräfte in das Erdreich.

–––– Einwirkung Kern
–––– Einwirkung Exoskelett
–––– Einwirkung Verbindungen
–––– Einwirkung bei Ableitung

Zusammenspiel von Holz und Stahlbeton
Der Erdbebenschutz der mit dem Seismic Award 2021 ausgezeichneten Gebäude ergibt sich aus dem Gesamtkonzept. «Es ist ein programmatisches Projekt», sagt Architekt Marc Widmann. Die ein- bis dreigeschossigen Volumen sind orthogonal organisiert, stehen nah beieinander und sind alle unterkellert. Trotz unterschiedlichen Raumdimensionen beruht ihre Konstruktion auf dem gleichen Prinzip: Ein hybrides System kombiniert ab Erdgeschossniveau Holz und Stahlbeton. Im Innern bestehen Tragstruktur und Trennelemente aus Holz und Holz-Beton-Verbunddecken. Ein monolithisches Skelett aus Stahlbeton, das vor Ort gegossen wurde, fasst diese vorfabrizierten Kernzonen ein. Die Stützen verjüngen sich nach unten und sind facettiert. Die Untersichten der umlaufenden, 2,70 Meter breiten Balkone und Dachränder steigen zur Mitte der Stützenfelder und zu den äusseren Rändern hin sanft an. «Es handelt sich um ein Rahmensystem mit steifen Knoten, dessen Geometrie auf die Beanspruchungen durch die Einspannung abgestimmt ist», präzisiert Ingenieur Marcio Bichsel von B + S. Das Resultat überzeugt mit diskreter Eleganz und expressionistischer Note.

Die Fluchttreppen ruhen auf Gleitlagern. Foto: Rasmus Norlander

Beiläufiger Erdbebenschutz
Die raumhaltigen Fassaden erfüllen verschiedene Aufgaben – auch für den Aussenraum. Die umlaufenden Balkone schützen vor Sonne und Witterung, dank der angedockten Treppenläufe dienen sie auch als Fluchtwege und steifen die Gebäude horizontal aus. Architektonische und statische Funktionen verschränken sich zu einem leicht überschaubaren Konzept. Das beeindruckte die Jury des Seismic Award: «Im Hinblick auf die Erdbebensicherheit kommt aufgrund des symmetrischen Grundrisses, des stetigen Aufrisses und der klaren Lastabtragung ein einwandfreier konzeptioneller Entwurf zur Geltung», schreibt sie lobend über das Siegerprojekt. Mit den statisch wirksamen Fassaden – von Fachleuten als Exoskelett bezeichnet – hat das Entwurfsteam den Erdbebenschutz innerhalb ihres architektonischen Grundkonzepts adäquat und wirksam gelöst. «Das ergab sich aus dem Konstruktionssystem», bestätigt Marcio Bichsel. Die Holzstruktur im Innern leitet die Vertikallasten in den Boden. Die horizontalen Erdbebenlasten werden via acht eigens kreierten Anschlüssen an den Decken der Geschosse auf das Exoskelett übertragen. So kann das Exoskelett die Temperaturdifferenzen zwischen den Jahreszeiten gut absorbieren. Die Aussentreppen sind auf Gleitlager im Erdgeschoss abgestützt, sodass sich das äussere Rahmensystem im Falle eines Erdbebens einheitlich verhält.

Das architektonische und das statische Konzept bilden eine Einheit. Foto: Yves André

Gegenseitige Wertschätzung
Was ist das Erfolgsrezept? Marcio Bichsel und Marc Widmann meinen unisono: «Es braucht gegenseitige Wertschätzung.» Die gefundene Lösung wirke einfach, «doch bis sie vollkommen war, haben wir viel Arbeit investiert, vor allem, um die technische Machbarkeit zu beweisen und einige bauliche Details zu meistern», so Marcio Bichsel. Die gute Zusammenarbeit zwischen Architektur- und Ingenieurbüro habe substanzielle finanzielle Einsparungen ermöglicht, vor allem, weil auf jegliche innere Aussteifung verzichtet werden konnte. Der ökonomische ‹Bonus› kam der Architektur zugute – und letztlich auch der Erdbebensicherheit.

Dieser Beitrag stammt aus dem Themenheft ‹Seismic Award 2021›. Es kann im Webshop bestellt werden.

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