Edvard Ravnikar, Platz der Revolution (heute Platz der Republik), 1960–74, Ljubljana. Foto: Valentin Jeck

Auf dem Weg zur konkreten Utopie

Mit einer gross angelegten Übersicht zur jugoslawischen Architektur zwischen 1948 und 1980 gibt Martino Stierli, Chefkurator Architektur und Design am MoMA, seinen cleveren Einstand.

Diese Utopie wurde in Beton geträumt: Schwer hängt dieser im bleiernen Himmel, dunkel hebt sich das Material gegen die Wolken ab. Der Fotograf Valentin Jeck peitscht seine Aufnahmen auf harte Kontraste, filtert daraus eine düstere Stimmung. Seine Aufnahmen bringen Pathos in die Ausstellungsräume. Towards a Concrete Utopia: Das Wortspiel des Ausstellungstitels wird darin Bild. Doch was so massiv in der Form auftritt, bröckelt an der Oberfläche. Darin zeigt sich die Kehrseite, die jeder Utopie innewohnt. Hier ist es die Dystopie eines Nationalismus, der 1980 mit dem Tod des Autokraten Tito das Ende der Idee Jugoslawien einläuten und in einer Katastrophe münden sollte. Der Bruch löste eine tiefe politische und wirtschaftliche Krise aus und markiert den Beginn des postmodernen Jahrzehnts in Jugoslawien. Spätestens da war der geteilte Glaube an die bessere Zukunft und an den antifaschistischen Kampf aufgebraucht, der die Nation einst zusammenhielt. Eine neue Ideologie musste her.

Uglješa Bogunović, Slobodan Janjić, Milan Krstić, Avala Fernsehturm, 1960–65 (1999 zerstört, wiederaufgebaut 2010), Avala, Belgrad. Foto: Valentin Jeck, 2016
Doch die Kuratoren Martino Stierli, Vladimir Kulić und Anna Kats blicken nicht vom Ende her auf die Geschichte. Es geht ihnen nicht um den nostalgischen Insta-Chic, den verfallender Brutalismus sozialistischer Herkunft verströmt – obwohl die Bilder von Valentin Jeck, der vom MoMA beauftragt wurde, heftig damit flirten. Die Absicht der Kuratoren ist eher topologisch begründet: Mit der Ausstellung strengen sie nichts weniger als die Ausweitung des Kanons auf bisher unbekanntes Terrain an. Eines Kanons der Architekturmoderne, der gerade auch am MoMA festgeschrieben wurde.

We Build the Country - the Country builds us!, Videoinstallation von Mira Turajlić, 2018
Das Projekt richtet den Blick auf eine Architektur, die unverkennbar zur Moderne gehört. Zugleich ist sie nicht zu verstehen, ohne die historisch-politische Situation, in der sie aufblühte. Denn die architektonische Utopie, von der die Ausstellung handelt, ist auch eine soziale und kulturelle. Sie setzt 1948 ein, als später, aber rasanter Aufbruch einer ländlich geprägten Gesellschaft in eine sozialistische Moderne. Die Architektur spielte dabei eine zentrale Rolle. Es galt, für den multiethnisch zusammengesetzten, kulturell vielfältigen Staat aus sechs Republiken einen gemeinsam geteilten öffentlichen Raum zu bauen und eine nationale Identität zu vermitteln. Schliesslich fand die Nationenbildung unter den Bedingungen des Sozialismus statt. Eines Sozialismus der besonderen Art: Tito definierte ihn ab 1948 mit der Loslösung von Stalin unter dem Banner der Blockfreien. Dieses «Dazwischen» sollte die Identität des Landes wohl stärker prägen, als Tito es auf Dauer lieb sein konnte.

Wieder aufgebaut
Die Verheerungen des 2. Weltkriegs stellten konkrete Bauaufgaben. Kollektiv wird Schutt weggeräumt, aufmarschiert, die Zukunft gebaut. Städte wie Belgrad mussten wiederaufgebaut und erweitert werden. Die Nation brauchte Infrastruktur- und Wohnungsbauten, Fabriken, Universitäten, Kindergärten, aber auch Opernhäuser und Moscheen. Der Klang der Videoinstallation im ersten Raum führt das Publikum in die nächsten Stationen einer Ausstellung, die klassisch aufgebaut und klar strukturiert ist.

Blick in die Sektiom «Modernization». Im Vordergrund das neu erstellte Modell des Stadions.
Die vier Sektionen Modernisierung, Globales Netzwerk, Alltag und Identität schlagen Schneisen in das reich bestellte Feld. Mehr als 400 Exponate kamen zusammen, darunter Entwurfszeichnungen, Pläne, historische und von Studierenden der Cooper Union in einem Seminar rekonstruierte Modelle aus Holz, Fotografien, Videoinstallationen und Filmausschnitte, aber auch Möbel, Leuchten, Grafik und elektronische Geräte. Das legendäre Systemdesign des Kiosks K67 von Saša Mächtig kann gar am Original überprüft werden. Die Museumsaufsicht gibt darin in Touristen geprüftem Englisch geduldig Auskunft.

Überzeugendes Systemdesign: Der Kiosk K67 von Saša Mächtig gelangte bereits in den 1970ern in die Designsammlung des MoMA.
In drei Jahren trug das Team das Material aus Gemeindearchiven, musealen und privaten Sammlungen zusammen. Einige der Protagonisten konnten befragt werden, bei anderen half die als Forschungsarbeit angelegte Ausstellung gar Archive aufzufinden und zu sichern – wie im Fall von Juraj Neidhart, dessen Tochter drei Archivschachteln aus einem verfallenen Haus retten konnte, der letzte Rest.

Forschung und Entwicklung
Beton trieb die Modernisierung ebenso voran wie die Doktrin der Arbeiterselbstverwaltung. Tito wollte damit nach 1948 die wirtschaftliche Effizienz des Landes steigern, das keine mächtigen Freunde mehr hatte, weder im Osten noch im Westen. In der Architektur sollte sie zu einem ausgebauten Wettbewerbswesen führen. Das bessere Projekt setze sich durch. Experimente wurden möglich. Die Dezentralisierung beförderte die Wertschätzung und Fortführung regionaler Bautraditionen unter dem Zeichen der Moderne. Architekten reagierten auf das Spezifische eines Ortes. Das zeigt etwa die National- und Universitätsbibliothek in Kosovo von Andrija Mutnjaković.

Im Vordergrund das neue Modell der National- und Universitäts-Bibliothek in Pristina, 1971-1982

Das Gebäude besteht aus einem Raster von Betonkuben. Sie werden bedeckt von Halbkugeln und erinnern ebenso an Islamische Architektur wie an Buckminster Fullers Geodätische Kuppeln. Svetlana Kana Radević zweistöckiges Hotel Podgorica schmiegt sich mit dem Steinmauerwerk aus Flusskieseln und dem rauen Beton an die Kante des abfallenden Flussufers der Morača. Und mit der Weissen Mosche Šerefudin überführt Zlatko Ugljen die bosnische Bautradition in die Moderne.

Die Weisse Mosche Šerefudin in Visoko (1969-79) von Zlatko Ugljen in der Aufnahme von Valentin Jeck.

Import, Export
Nicht nur die boomende Tourismuswirtschaft, mit welcher der Staat einen neuen Wirtschaftszweig in den 1960ern aufbaute, auch Architektur und Design nutzten die Durchlässigkeit zwischen den Blöcken. Der Austausch befruchtete beide Seiten. Der Klappstuhl Rex von Niko Kralj war ein Exportschlager, ebenso wie die Telefonapparate oder der portable TV, die sich an italienischen Vorbildern ausrichteten.

Zum Import und Export gehörte auch das Design.
Bernardo Bernardi brachte Skandinavisches Designdenken nach Kroatien, und Victor Papanek trat mit seiner Kritik am industriellen Komplex auch in Jugoslawien auf – doch das ist in der Ausstellung kein Thema. Was man indes mitnimmt: Hinter dem Eisernen Vorhang, der in diesem Fall so eisern nicht war, ging es in den 1970er Jahren ebenso bunt und poppig zu wie andernorts. Und in der Installation, die Clips aus jugoslawischen TV-Sendungen und Filmen collagiert, werden die gleichen Probleme zwischen alt und jung, Mann und Frau, Konsum und Arbeit verhandelt wie überall.

Vjenceslav Richter, Expo-Pavillon Brüssel, 1958.
Der Export kam nicht zu kurz. Vjenceslav Richters konzeptuell radikaler Pavillon an der Brüsseler Weltausstellung 1958 gefiel dem westlichen Publikum in seinem International Style. Bei Edvard Ravnikars Bauten am Platz der Revolution in Ljubljana sind Aalto, aber auch Le Corbusier, bei dem Ravnikar einst gearbeitet hatte, nicht fern. Ravnikar wiederum gehört zu den vier Architekten, die in der Ausstellung als Lehrer und Diskursteilnehmer hervorgehoben werden – die Filiation ging weiter. Doch nicht nur in dem Gebäuden, auch in der Planung sind die Referenzen deutlich. Jugoslawische Architektinnen und Architekten planten in den sozialistischen Staaten Afrikas mit der Überzeugung, dass gut sein muss, was im Westen funktioniert. Auch in dieser Hinsicht waren sie Teil des modernistischen Diskurses.

Planungvon Neu-Belgrad, 1949-1951
Umgekehrt hielt die internationale Moderne Einzug im Stadtbild jugoslawischer Städte, die funktionsaufgeteilt geplant wurden. Neu-Belgrad, ab 1948, ist mit Chandigarh oder Brasilia zu vergleichen. Und Kenzo Tange half 1963 mit, das vom Erdbeben zerstörte Zentrum von Skopje neu zu planen. Obwohl nur teilweise umgesetzt, konnte er hier erstmals seine metabolistischen Ideen umsetzen. In der Folge baute eine Gruppe von jungen Architekten unter Tanges Führung die Stadt auf. Der raue Beton wurde zum Erkennungsmerkmal. Die Bauten setzen den verstärkten Beton als Baumaterial der Wahl ein. Kühne Kuppeln – lange unübertroffen als grösste Struktur ihrer Art wird Ranko Labans Kuppel auf dem Messegelände von Belgrad gefeiert – zeugen von der engen Zusammenarbeit von Architektur und Ingenieursleistungen. Ab Mitte 1960er Jahre ringen die Architekten dem Beton skulpturale Qualitäten ab. Massiv eingesetzt, gekörnt, geschichtet, gestreckt wirken die Bauten wie Brutalismus auf Speed.
Janko Konstantinov, Telekommunikationszentrum 1968–81, Skopje. Südwestfassade. Foto: Valentin Jeck

Sozialer Standard
Dass Architektur glänzt, die sich einem Wettbewerb stellen muss, dass sie sich auf forschende Leistung an Konstruktion und Material stützt, dass sie im disziplinären Austausch über die Landesgrenzen hinweg steht und so auf ähnliche formale Lösungen kommt – das verbindet die jugoslawische Architektur jener Zeit mit derjenigen anderer Länder. Im schnellen Blick könnte man sogar wie eine amerikanische Rezensentin auf die Idee kommen, das hätte ja überall so ausgesehen, damals in Europa.

Ausstellungsansicht zum Thema Sozialer Standard.
Doch das, was die jugoslawische Architektur unterscheidet, ist der Soziale Standard. Bildung, Gesundheit und Kultur standen allen zur Verfügung. Wohnen wurde verfassungsmässig garantiert. Die Aufgaben waren so zahlreich, wie die Experimente nötig waren. Schliesslich sollten die Kindergärten die Kinder zu sozial agierenden Menschen erziehen, die Museen allen offenstehen, die Wohnungen einer sich rasant industrialisierenden, aber trotzdem sozialistisch organisierten Gesellschaft dienen. Doch der Wohnungsbau war anders als in kommunistischen Ländern nicht standardisiert, die Vorfabrikation gering. Das öffnete Raum für Experimente. Die Wettbewerbsresultate wurden über Publikationen und Ausstellungen verbreitet. So entstanden unterschiedliche Wohnungsgrundrisse wie das Belgrader Appartement, die trotz kleiner Fläche flexibel nutzbare Räume und Aussenräume boten. Solche Sorgfalt mag erklären, weshalb die Kritik an zweckrationalen Bauten weniger hart ausfiel als hierzulande.

Siedlung Split 3 (1970-1974), Foto: Valentin Jeck.
Eine Siedlung für 50'000 Menschen wie Split 3, das in den 1970er Jahren erbaut wurde, bot als Ausgleich zu den kleinen Wohnungen sorgfältig gestalteten öffentlichen Raum. Ihre Planung reagiert auf das römische Strassenraster der Stadt und öffnet den Blick auf die Adria.

Identität
Beton als Material und Brutalismus als Form prägt auch die Monumente, die im ganzen Land an den Widerstand gegen den Faschismus erinnern. Als Bauaufgabe, die in den 1950ern zum Experiment aufforderte, vereinte sie Künstlerinnen und Architekten. Sie sind Zeichen für einen Erinnerungskult, der sich in die Landschaft einschrieb.

Miodrag Živković, Monument Sutjeska, 1965–71, Tjentište. Foto: Valentin Jeck
Der Künstler, Autor und Architekt Bogdan Bogdanović etwa hat viele davon entworfen und umgesetzt – als Mausoleen, Friedhöfe, Denkmäler, Kunstwerke. Sie fordern zum gemeinsamen Erinnern an den Widerstand auf und halten so die Utopie hoch – auch lange nach deren Zusammenbruch. Anders lässt sich der Hass nicht erklären, der sich an dieser gebauten Identitätsstiftung entlud und die Objekte als Ausweis eines geeinten Jugoslawiens zum Teil zerstörte. Am Schluss der Ausstellung stapfen drei Männer durch den Schnee zu einem der Monumente. Sie unterhalten sich über die Sinnlosigkeit von Rache, über die vielen Toten, die unbekannt und unbestattet unter der Erde, unter ihren Füssen liegen. Einer wischt den Schnee von der Inschrift und fällt fast hin. Der melancholische Ton dieser Videoaufnahmen zeigt vielleicht am eindrücklichsten, dass die Utopie zwar mit allen Kräften geplant, aber unerreicht blieb. In dieser kathartischen Rückschau löst sich der Schauder auf, der besonders das amerikanische Publikum vor dem sozialistischen Experiment befallen mag. Doch zugleich zeigt der Ausschnitt auch, wie wichtig es ist, einmal Erreichtes ins historische Gedächtnis zu überführen.  

Ein Programm
Mit dem Unternehmen, die Architektur Jugoslawiens von 1948 bis 1980 zu zeigen, schlägt Martino Stierli zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Philip Johnson Chief Curator of Architecture and Design präsentiert sich nach seiner Wahl vor drei Jahren erstmals mit einer grossen Ausstellung. Die Reaktionen in der Presse – ebenso wichtig wie die Besuchereintritte – sind wohlwollend bis euphorisch. Die Überraschung, den Kanon der architektonischen Moderne wenn nicht gerade um weisse Flecken, aber doch um eine im Diskurs vernachlässigte nationale Architektur zu erweitern, ist gross – im liberalen New York in der Ära Trump ist sie wohl noch grösser als es anderswo möglich gewesen wäre. Mit seinen Ko-Kuratoren Vladimir Kulić und Anna Kats benennt Stierli dieses Anliegen gar als «methodologische Neukalibrierung» der Architekturgeschichte der Moderne. Sie zeichne durch den Blick auf vergessene Terrains nicht nur die Prähistorie des Zeitalters der Globalisierung in der Architektur nach, sondern stelle auch das überkommene Modell von Zentrum und Peripherie in Frage. Dass dabei die Verflechtungen über Jugoslawien hinaus nachgezeichnet werden, ist unabdingbar. Die Ausstellung kann dafür nur einen Anfang machen, vieles gilt es nachzutragen. Die Kuratoren hoffen deshalb auf nachfolgende Forschungen. Zugleich bietet die Schau den Boden für weitere Erkundungen: Südostasien, China, Afrika. Die Welt ist gross. Der Kanon, den das MoMA geprägt hat wie kaum eine andere Institution, wird erweitert. Gut so.

 

 

 

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