Für den einen ist die ‹Die offene Stadt› von Richard Sennett ein jämmerliches Buch, für den anderen trifft es einen Nerv.

Ärger, Anregung, Sennett

Für den einen ist die ‹Die offene Stadt› von Richard Sennett ein jämmerliches Buch, für den anderen trifft es einen Nerv. Köbi Gantenbein und Kulturunternehmer Bruno Deckert im Bücherduett.

Köbi Gantenbein: Es ist zum Verzweifeln. Richard Sennett, der zu den Besten gehört, die über Urbanismus und Stadtleben schreiben, verfasst ein jämmerliches Buch – ‹Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens›. Er schwadroniert durch die Geschichte der Stadt, reiht deren Ereignisse und Ideen aneinander, garniert mit Anekdoten aus seinem Lese- und Reiseleben. Unvermutet wechselt er zwischen banalen Alltagsbeobachtungen, betulichen Rezepten aus seiner schon lange zurückliegenden Praxis als Stadtplaner und seinem immensen Bücherwissen. Und statt dass die Summe ein Ganzes ergäbe, bleibt ein Sammelsurium. Er ist noch immer der grosse Erzähler, der über Stadt schreibt, ohne dass mir die Füsse einschlafen wie bei vielen Kollegen seiner Zunft. Aber das genügt nicht.

 

Bruno Deckert: Ich habe Sennetts Flanieren gern gelesen, seine Gedanken, Beobachtungen und Erlebnisse sind leichtfüssig, zwanglos aneinandergereiht. Mich hat berührt, wie er vom Buben berichtet, der ihn und seine Frau durch Medellín führt, und wie er einer jungen Kolumbianerin vergeblich helfen will, ihr Glück als Bibliothekarin in der ‹offenen Stadt› London zu machen. Das ist neu, präzis. Schon allein dafür, wie er Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz auf wenigen Seiten für die ‹cité› fruchtbar macht, hat sich die Lektüre gelohnt. Ja, Sennett-Leser kennen vieles, was er hier versammelt, ‹Die offene Stadt› ist nicht sein Meisterwerk. Aber die Idee, den Unterschied und den Zusammenhang zwischen ‹cité› und ‹ville› zu erklären, trifft einen Nerv des Nachdenkens über die Stadt.

 

Köbi Gantenbein: Sennett schafft trotz eines grossen Buchstabenbergs keine sinnvolle Argumentation. Immer wieder fragte ich mich: «Wozu das alles? Was will der Autor mir sagen? Was sind die Kräftefelder für ‹ville›, was die Überformungen der ‹cité›?» Gewiss streift er die aktuellen Problemfelder der Stadt wie Gentrifizierung, Klimawandel, Diskriminierung, Rassismus und redet brav für die ‹offene Stadt› als einem Ort, wo alle miteinander reden und heiter am grossen Ganzen wirken.

 

Bruno Deckert: Er legt doch mit seinen bunten und freien Assoziationen das grosse Defizit der Städtebauer und die Misere der Architektinnen frei. Die ‹ville›, die sie mit Masterplänen, Konzeptionen und schliesslich viel Beton und Glas bauen, sind für das gute Leben viel weniger relevant als sie glauben, sie sind oft schädlich. Die Pläne von Baron Haussmann für Paris, die von Ildefons Cerdà für Barcelona, die von Frederick Law Olmsted für New York schafften die gute, offene Stadt ebenso wenig wie die Helden der Moderne, deren Fahrt auf dem Ozeandampfer nach Athen zu einem ihrer ‹Congrès Internationaux d’Architecture Moderne› Sennett hinreissend beschreibt. Stadtleben ist viel stärker sozial und politisch getrieben, viel komplexer und unberechenbarer, als das die Städtebauer glauben.

Der Buchhändler, Philosoph und Ökonom Bruno Deckert und Köbi Gantenbein sind seit vierzig Jahren Leser des amerikanischen Soziologen Richard Sennett.

Köbi Gantenbein: Das habe ich nicht mitgekriegt in all den Buchstaben. Mich enttäuschten seine Worte zur Stadt im Banne von Google. Sennett weiss so viel über die Smartcity wie ich als Feuilletonist aus dem Bleistiftgebiet. Er sackt ab in Anekdoten, berichtet, wie es zu und her geht in den Büros der IT-Riesen, und immer wieder flicht er auf einem eigenartigen Egotrip seine persönlichen Erfahrungen und Bekanntschaften mit Forschern aus dem MIT, mit prominenten Musikern und berühmten Philosophinnen ein.

 

Bruno Deckert: Alles geschenkt. Und doch ist mir Sennetts Mäandern, das assoziative Schlendern durch die Stadt aus Gedanken, durch Tiefgründe und Belanglosigkeiten, ein Abbild seiner Idee von der ‹offenen Stadt›. Wer meint, mit einem gescheiten Masterplan sei die Stadt gebaut oder verbessert, liegt falsch. Und wer das nicht glaubt, soll die Europaallee in Zürich besuchen. Ich arbeite da und habe ihre Entwicklung von der ersten Baugrube an verfolgt – es ist eine Stadtplanung, die den Zusammenhang von ‹cité› und ‹ville› verkennt oder gar missachtet.

 

Köbi Gantenbein: Immerhin, gefallen haben mir die autobiografischen Skizzen, die Sennett zwischen seinen Gedankenflügen ausbreitet. Er berichtet, wie der Hirnschlag ihn niederstreckte, von dem er sich langsam und dank zäher Arbeit an seinem Körper erholt hat. Das wäre ja nun etwas – der kranke Mann macht sich auf, die Stadt neu zu entdecken, ihre Defizite für die zu sehen, zu analysieren und zu brandmarken, deren Beine lahmen oder deren Kopf schnell müde wird. Er könnte fragen: «Und nun, wo der Körper anders ist, was gilt noch? Und was umso mehr?» Doch ausser ein paar Anekdoten, die uns immerhin trösten, dass Sennett wieder halbwegs auf den Beinen ist, ist da nichts. Ich bin zu hart – es ist berührend zu lesen, wie der wacklige, alte Mann die Kantstrasse in Berlin entlangwankt und in einer kleinen Skizze die Stadt, seinen persönlichen Zustand und ein der Philosophie gewidmetes Leben verbindet – das ist die beste Passage des Buches.

 

Bruno Deckert: Ich bedaure schon, dass Sennett seine starken Vorarbeiten zur ‹offenen Stadt› nicht stärker und übersichtlicher in dieses Hauptwerk eingearbeitet hat, zum Beispiel die zentrale Unterscheidung zwischen Membran und Wand oder Mauer. Gewiss hat der Hirnschlag da wohl vieles anders gelenkt, als er plante, vor mehr als einem Dutzend Jahren einen Dreiersprung ankündend mit ‹Handwerk – Zusammenarbeit – offene Stadt›. Als drittes in der Reihe stiftet das Buch aber viel Sinn. Die Stadt als Ort, der Handwerk braucht, planerisches Handwerk, die Stadt als Ort der Zusammenarbeit und des Gemeinsinns. Natürlich sind das keine sensationellen Erkenntnisse, aber wie Sennett sie komponiert und erzählt, ist Hohe Schule.

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