Stilhülse und Kern
Über historisierende Fassaden kann man unterschiedlicher Meinung sein. Das interessantere Phänomen ist die Auflösung des Zusammenhangs zwischen Innen und Aussen.
Die schöne Wendung «Stilhülse und Kern» geht zurück auf den österreichischen Architekten und Lehrer Joseph Bayer, der schon 1886 von einer kommenden Baukunst fantasierte: «Dann springen gewiss die so schön ornamentierten historischen Stilhülsen ab», heisst es in seinem Aufsatz Moderne Bautypen, «sie schälen sich für immer los und der neue Kern tritt blank und klar ans Sonnenlicht.» Seither sind Stilhülse und Kern zu beliebten Metaphern geworden, um die immer wiederkehrenden Fragen zum Verhältnis von Struktur und Fassade oder Konstruktion und Ausdruck zu verhandeln, wobei das abwertende Bild der Stilhülse vor allem die moderne Klage über die Falschheit des Dekors unterstützte. «Stile sind Lüge», wird es später bei Le Corbusier heissen, und: «Die Lüge ist unerträglich».
Dass das Aussen etwas vorgaukelt, das innen bzw. dahinter gar nicht zu finden ist, ist ein gewissermassen notwendiges Charakteristikum historistischer Architektur. Allerdings ist es mit der Wahrheit der Konstruktion und ähnlichen Postulaten auch andernorts nicht weit her, und je nach Perspektive wird aus dem ethischen Problem unversehens eine ästhetische Qualität.
Man braucht das aktuelle Schweizer Architektur- und Wettbewerbswesen mit seinen retrophilen Tendenzen nun gar nicht unter moralischen Vorzeichen zu diskutieren, denn die zeitgenössische Bauweise mit ihren technisch und energetisch hoch entwickelten Mehrschichtfassaden produziert nolens volens applizierte Hüllen, was wiederum heisst, dass die Architektinnen und Architekten über das äussere Gewand ihres Bauwerks und über dessen Bezug zum einem wie auch immer gelagerten «Kern» zwangsläufig frei entscheiden müssen. Es schälen sich so zwei voneinander weitgehend unabhängige Teilaspekte der Architektur heraus, welche unter veränderten Vorzeichen auf die alte Dialektik von Stilhülse und Kern zurückweisen. Der eine Aspekt ist mit dem Innern beschäftigt, welches nun allerdings bis in die Schichten der Fassade hineinreicht: mit der Grundrissorganisation, der Ökonomie, der Ökologie, mit den Flächenberechnungen und den Baugesetzen. Der andere Teilaspekt beschäftigt sich mit dem Äusseren: mit Fragen der Erscheinung, des Materials, der Form, der berühmt-berüchtigten «Stimmung». Ein Zusammenhang zwischen den beiden Aspekten ist nicht zwingend.
Interessant ist, dass auch in der Bewertung von Wettbewerbsbeiträgen Stilhülse und Kern als quasi gesonderte Entitäten gehandhabt werden. Natürlich ist es von Vorteil, wenn sowohl Inneres wie Äusseres «die Jury überzeugen konnten», wie es im Jargon der Wettbewerbsberichte heisst – es ist aber auch durchaus möglich, dass die Grundrisse überzeugen konnten, die Fassade hingegen nicht überzeugen konnte, oder aber dass die Grundrisse nicht überzeugen konnten, die Fassade hingegen überzeugen konnte. Das bringt dann zwar Abzüge für den nicht überzeugenden Teilbereich, fällt darüber hinaus aber nicht weiter ins Gewicht, weil das holistische Ideal der gegenseitigen Bedingtheit von Innen und Aussen schon längst aufgegeben worden ist.
Nehmen wir als Beispiel den Ersatzneubau der Kolonie 3, einem Genossenschaftswohnhaus mit Alterswohnungen beim Zürcher Friedhof Sihlfeld, für welchen die Baugenossenschaft Wiedikon einen Wettbewerb durchgeführt hat (gut), allerdings einen selektiven (weniger gut).
Zu den diffizilen Fragen des «Kerns» gehörten hier die Erschliessung und Orientierung der teils kleinen und nach Norden und Osten gerichteten Wohnungen, der Umgang mit dem Höhenversatz zwischen den beiden anschliessenden Bestandesbauten und der erwünschte stärkere Bezug zum Innenhof. Das Siegerprojekt punktet bei der Jury mit der Idee einer zum Hof hin offenen gemeinschaftlichen Treppenanlage sowie den gut geschnittenen Wohnungen.
Ebenfalls gelobt wurden Entscheide, welche die Frage der «Stilhülse» betreffen, namentlich die volumetrische Angleichung von neuem und altem Blockrand und der «durch raumhohe französische Fenster mit breiten Leibungseinfassungen und Betongesimsen geprägte Fassadenausdruck», welcher den Neubau optisch auf selbstverständliche Weise mit den bestehenden Nachbarhäusern verbinde.
Interessanterweise aber weisen weder die Wohnungsgrundrisse noch die zentrale Entwurfsidee des offenen Treppenhauses auf die historisierende Fassade hin, im Gegenteil sind sie beide ausgesprochen zeitgenössisch. Zwischen Innen und Aussen gibt es also keine notwendige Entsprechung. Tatsächlich hätte das Projekt ohne grössere Veränderungen des Kerns auch eine ganz anders Stilhülse bekommen können – eine Beobachtung, die freilich auch auf die anderen Beiträge zutrifft und sich folglich verallgemeinern lässt.
Als Konsequenz wird der Ausdruck eines Gebäudes vornehmlich zu einer Geschmacksfrage. Während die Qualitäten des Kerns argumentativ und numerisch belegt, verhandelt, kritisch hinterfragt werden können, ist die Stilhülse den persönlichen Vorlieben des Entwerfenden beziehungsweise des Betrachtenden ausgesetzt. Ich selber beispielsweise mag die historisierenden Fassaden nicht so sehr, ich habe es lieber etwas frischer. Den Jurymitgliedern und den Verfassern aber haben sie gefallen, da will man ja nicht weiter streiten.
Diskutiert wird dieser Wettbewerb trotzdem, und zwar am nächsten Wettbewerbsquartett: 4. Juni 2019, 19 Uhr, Kulturpark Zürich-West. Zu Gast: Lisa Ehrensperger.
Ersatzneubau Kolonie 3, Goldbrunnenstrasse 162, 8055 Zürich
Eingeladener Projektwettbewerb
Auslober: Baugenossenschaft Wiedikon, Zürich
Beurteilungsgremium: Tina Arndt, Barbara Strub, Sabina Hubacher, Daniel Gut, Monika Rüsi
– 1. Rang: Zimmermann Sutter Architekten, Zürich
– 2. Rang: Edelaar Mosayebi Inderbitzin Architekten, Zürich
– 3. Rang: huggenbergerfries Architekten, Zürich
– 4. Rang: ARGE Wasescha Schläpfer, Zürich
– 5. Rang: Architekturbüro Miroslav Šik, Zürich
Save the date: Dieser Wettbewerb wird auch am nächsten «Wettbewerbsquartett» diskutiert: 4. Juni 2019, 19 Uhr, Kulturpark Zürich. Zu Gast: Lisa Ehrensperger. Genaue Informationen folgen.
Link zum Jurybericht