Ein verbrauchter Stuhl erhält mit einer Auffrischung ein neues Leben. Eine gewisse Patina bleibt aber erhalten. Fotos: Marek Iwicki
Im Auftrag von Horgenglarus

Stühle im Jungbrunnen

Manche Stühle, die die Fabrik von Horgenglarus verlassen, kehren nach Jahrzehnten zurück. Im Jungbrunnen werden sie dort für ein zweites Leben fit gemacht. Dabei gibt es unterschiedliche ‹Pflegestufen›.

«Reviens si tu peux – kehre zurück, wenn du kannst», hatte mal jemand auf einen Geldschein geschrieben, bevor er in der weiten Welt zirkulierte. Auch bei Horgenglarus erhält jeder Stuhl eine Markierung, wenn er die Fabrik verlässt. Anhand dieser Plakette lässt sich dann eruieren, aus welchem Jahr der Stuhl stammt. Tatsächlich gibt es Stühle, die in die Fabrik zurückkehren und sie – repariert oder aufgefrischt – wieder verlassen, um in der Welt zu zirkulieren.

Eine Etikette unter der Sitzfläche gibt Auskunft über das Baujahr des Stuhls.

Dank der handwerklichen Fertigung lässt sich an einem Horgenglarus-Stuhl praktisch alles ersetzen. Ist ein Bein zersprungen? Kein Problem, das neue steht bereit. Ist die hölzerne Sitzfläche doch zu hart? Bitte sehr: Man kann sie durch ein Polster ersetzen! Ist das Jonc-Geflecht zerrissen oder nicht mehr en vogue? Eine neue Sitzfläche aus Holz gibt dem Stuhl wieder soliden Boden. Oder wirken die sechzigjährigen Stühle etwas gar abgenutzt? Leichtes Anschleifen und ein neuer Lack verjüngen das Sitzmöbel um Jahrzehnte.

Dank Schraubverbindungen lassen sich einzelne Teile problemlos ersetzen.

Unterschiedliche «Pflegestufen»
Meistens sind es Privatkunden, die sich bei Horgenglarus anhand von Fotos erkundigen, ob sich die zwar verbrauchten, aber immer noch soliden Erbstücke erneuern oder die Fundstücke vom Flohmarkt auffrischen lassen. Die «Pflegestufe» bestimmen dabei die Kundinnen und Kunden. Machbar ist grundsätzlich alles, doch manchmal sprengt der Aufwand die Grenzen des Sinnvollen. Und grundsätzlich nimmt Horgenglarus nur Stühle aus dem eigenen Haus in Pflege. Ein Stuhl, der die Fabrik nach dem Jungbrunnen wieder verlässt, hat vor sich eine Lebensdauer wie ein neuer Stuhl.

Je nach Kundenwunsch wird die Oberfläche vor der Neulackierung nur angeschliffen oder ganz abgeschliffen.

Neben diesen kleineren Aufträgen kehren auch grössere Lieferungen von Stuhlveteranen zurück in die Fabrik. So kommt es vor, dass ein Restaurant hundert Stühle auffrischen lässt und dazu gleich eine Partie neuer Exemplare bestellt. Auch für das Bundeshaus frischte Horgenglarus zahlreiche Stühle auf und produzierte zusätzlich neue nach dem alten Vorbild, aber auf die grösseren Masse der heutigen Menschen angepasst.

Höhepunkte an prominenten Orten
Gerne erinnert man sich bei Horgenglarus auch an die Nachproduktion der Stühle für das 2007 abgebrannte und wieder aufgebaute Zunfthaus zur Zimmerleuten in Zürich oder an die Auffrischung der Saalbestuhlung im Kurtheater Baden. Um ein stimmiges Gesamtbild zu erzeugen, hatte dort die Architektin Lisbeth Sachs in den 1950er-Jahren die Sitzreihen mit unterschiedlich breiten Stühlen ausgestattet. Diese mussten nun, aufgrund der veränderten Geometrie, durch Elisabeth und Martin Boesch neu zusammengefügt werden.

Auch von Horgenglarus: die Bestuhlung im Kurtheater Baden. Sie wurde mit der kürzlich abgeschlossenen Sanierung ebenfalls aufgefrischt, neu gepolstert und in leicht veränderter Anordnung wieder eingebaut. (Foto: Marie-Christine Gerber)

Eines der Highlights war die Ausstattung von Brasserie und Bar im Volkshaus in Basel, umgebaut von Herzog & de Meuron Architekten. In enger Zusammenarbeit mit den Architekten entwickelte Horgenglarus aufgrund noch vorhandener Vorlagen eine Variation alter Stühle neu. Im Gegensatz zur üblichen Herstellung wurden sie nicht gespritzt, sondern jedes einzelne Exemplar von Hand gebeizt.

Für den Betrieb ist die Auffrischung bestehender Stühle oder der Nachbau alter Modelle ein Nebengleis. In der handwerklichen Tradition von Horgenglarus ist es jedoch ein wichtiger Aspekt – vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit ohnehin. Die je nach Epoche unterschiedlichen Bezeichnungen auf den Etiketten und Plaketten erzählen jeweils eine Geschichte. «AIGA» beispielsweise bedeutet «1971» und bleibt erhalten, wenn der Stuhl seine zweite Reise aus Glarus in die Welt antritt.

Ein kurzer Film über den Jungbrunnen eines Horgenglarus-Stuhls.


Die Rubrik Werkplatz ist eine Kooperation von Hochparterre mit ausgesuchten Firmen und Institutionen des Werkplatzes Schweiz.

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