Kirche St. Peter, Zürich

Landschaft predigen

Pfarrer Greminger und Köbi Gantenbein predigten in der Kirche St. Peter von Zürich miteinander über die Schatten der Heimat auf der Landschaft.

Pfarrer Greminger und Köbi Gantenbein predigten in der Kirche St. Peter, Zürich am letzten Bettag miteinander über die Schatten der Heimat, der auf die Landschaft fällt, diese bedrängend und zerstörend.

1. Akt

Köbi Gantenbein
 
Bin ich in der Fremde, habe ich Heimweh. Das hat wohl auch mit dem Alter zu tun – mit zwanzig Jahren kannte ich diese Melancholie nicht – dieses Drücken und Ziehen. Johannes Hofer hat das 1688 in seinem Buch «Medica de Nostalgia» erklärt. Es ist eine frühe Theorie der Heimat und des Heimwehs. Hofer erklärte 1688 warum mich dieses Drücken und Ziehen plagt, wenn ich der Fremde bin statt in meinem Haus in der Heimat im Unterdorf von Fläsch im Kanton Graubünden. Heimweh ist ein Leiden am Luftdruck. Im Tal drückt er stärker aufs Gehirn als in den Bergen. Kurz – Heimat ist nicht Kultur, sondern Biologie.
 
Ich sitze also, zurück vom Fortsein, mit abschwellendem Hirn in meinem Haus. Da ist mir vieles heimatig. Leute und Landschaft. Und morgens um 5 Uhr – hell klingt ein Kirchenglöcklein. Ich höre zu, freue mich, drehe mich um und schlafe selig weiter. Luftdruck gut, Heimat da.

Ich bin ein Träumer der besseren Welt auf dieser Welt. Liberté, égalité, fraternité. Heimat für alle nicht für wenige. Meine Heimat hat Substanz in Landschaften. Sie erhält dank Büchern Form in meinem Kopf. So aus einem Buch von Ernst Bloch. Im «Prinzip Hoffnung» hat er seine Gewissheit erglühen lassen – wir werden die gute Welt herstellen in dieser Welt. Nach über 1600 Seiten schreibt Ernst Bloch einen weit klingenden Schlussakkord:
 
«Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.»

2. Akt

Ueli Greminger

O Thurgau du Heimat, wie bist du so schön...heisst es im Lied.
Als Thurgauer bin auch nicht ganz heimisch in der Stadt. Von Heimweh im biologischen Sinn kann da allerdings nicht die Rede sein, denn ich spüre nur wenig davon. Ich habe kein Heimweh nach dem Thurgau, ich bin gar kein richtiger Thurgauer mehr, habe dort keine heimatliche Bleibe. Es ist bloss noch die Erinnerung da. Ich ahne, was es ist, was Ernst Bloch mit Heimat meinte, dass es allen in die Kindheit scheint, worin noch niemand war, wenn ich mich daran erinnere, wie wir als Kinder im grosselterlichen Haus im Schatten des grossen Viadukts der Mittelthurgaubahn in Bussnang bei Weinfelden die Ferienzeit verbrachten, zusammen mit den gleichaltrigen Cousins in der Schreinereiwerkstatt unseres Grossvaters uns in den grossen Fässern versteckten. Der Grossvater war Küfer gewesen und ich rieche heute noch den modrigen Geruch zwischen Hefe und Schimmel der alten Most- und Weinfässer. So ist mir Heimat kein realer Ort, wohin ich aus der Fremde hinflüchten kann, wie du, Köbi Gantenbein das regelmässig tust. Heimat ist für mich wie das Paradies, das es nur als verlorenes gibt, wie die verspielte Momente der Kindheit, versteckt in einem alten Mostfass, das der Grossvater einst im Schweisse seines Angsichts gezimmert hat, indem er Fassdugen zuschnitt und im heissen Wasser zurecht krümmte.
Beim Träumen hingegen treffen wir uns. Auch ich bin ein Träumer der besseren Welt auf dieser Welt, da man einander gelten lässt, füreinander schaut.  
Max Frisch: „Heimat ist, wo man den andern versteht, da man verstanden wird“. Apropos Max Frisch. Haben wir im Taufgespräch über das Thema dieses Gottesdienstes gesprochen, da hat mir der Vater des Täuflings von seinem Aufenthalt in Amerika erzählt, da er in der Fremde Max Frisch gelesen hat, unter anderem den Fragebogen zum Thema Heimat. Nun habe ich diesen Fragebogen hervorgeholt und die Frage gesucht, die zu Dir pass. Da ist sie:  Worauf können Sie eher verzichten: auf Heimat oder auf die Fremde?
Von den 25 Fragen von Max Frisch auf dem Fragebogen ist das nun die Frage,
die ich Dir stelle, Köbi Gantenbein: Worauf kannst Du eher verzichten: auf Heimat oder auf die Fremde?

3. Akt

Köbi Gantenbein

Auf die Fremde kann ich «eher» verzichten. Auch in der Fremde. Bin ich dort, mache ich mich gerne heimisch. Ich schmiege mich schnell ein in die fremde Stadt, nach drei Tagen bin ich fortan zur selben Zeit täglich in derselben Wirtschaft, trinke, was man dort trinkt, und bin stolz, wenn ich bald auswendig weiss, wann welches Tram wohin fährt.

Und ich verzichte «eher» auf Heimat. Als Bub bin ich in die Fremde gereist mit Jim Knopf zu den Wilden 13, mit Karl May zu Kara Ben Emsi und später mit Ernst Bloch in die Hoffnung. Schaue ich in meine Lesebiografie, so habe ich eine langjährige Liebe zu Landschaftsromanen. Grossartig, wie Gerhard Meier die Landschaften von Amrain am Südfuss des Jura beschreibt, mir heimatlich fremd und fremd heimisch.

Aber ich will Heimat nicht verlieren. Ich will, dass ihre Substanz, die Landschaft, nicht weiter zerstört wird. Jede Sekunde verschwindet 1m2 unter Häusern, Strassen, Strässchen, Parkplätzen, Meliorationen, Lagern und Provisorien. Gut organisiert zerstören die in der Fédération des Profiteurs verbundenen Heimatliebenden die Landschaft. Mich erstaunt, mit welcher Wucht sie den Grund und Boden ihrer Heimat – die Landschaft – täglich malträtieren, plagen und ausbeuten; Heimat, die sie zu pflegen und hegen vorgeben mit viel Geld für die Armee und mit Tiraden gegen fremde Vögte und gegen Menschen, die aus der Fremde zu uns flüchten, Heimat suchend.

Mich bedrückt die Heimatvernichtung in grossem Stil. Wir besetzen immer mehr Quadratmeter pro Kopf als Wohnraum. Wir sind reich und die Thermodynamik des Reichtums heisst Ausdehnung. Als ich Bund war 20 m2, heute 45 m2. Dazu das Automobil als Menschenrecht. Und dafür neue Stadtautobahnen in Luzern, Biel und Zürich Rosengarten. Alles gegen die Landschaft, die nicht nur für sich da ist, sondern auch für uns. Mich bedrücken aber auch die vielen kleinen Vernichtungen – in meinem Nachbardorf Maienfeld wurde kürzlich aus einem Weglein, gesäumt von Trockenmauern und Bäumen, eine geteerte Strasse – Trockenmauer weg, Bäume weg, Insekten weg, Schmetterlinge weg, Eidechsen weg, Vögel weg. Landschaft leer. Traktor gut. Traktor schnell. Aus einer kleinen, völlig beiläufigen Schönlandschaft machen die Gewohnheit und der Unverstand eine Gebrauchslandschaft.

Weit gefehlt also, dass der Schatten der Fremde und der Fremden über der Heimat sei, es ist der Schatten der Heimatlichen über der Heimat.

4. Akt

Ueli Greminger

Wahrhaft prophetische Worte von Köbi Gantenbein. „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“ Sie erinnern an die Wucht des Prophetischen bei Jeremias Gotthelf, gar an den Propheten Jeremia selber, der seinen Volksgenossen die Gerichtspredigt  zumutete: Es sind nicht die fremden Völker, es ist das Volk Gottes selber, welches den Schatten wirft über die eigene Heimat, das verheissene Land:
„Ihr habt Gott vertauscht gegen das, was nicht hilft. Erstarret darüber ihr Himmel und schaudert, entsetzt euch über die Massen. Spricht Gott, der Herr. Denn zweifach haben die Menschen gesündigt: Mich haben sie verlassen, den Quell lebendigen Wassers und sie haben Brunnen gegraben, rissige Brunnen, die das Wasser nicht halten“.
Eine alte Geschichte wohl, doch sie scheint nie zu enden, sie kehrt wieder und wieder: Der Schatten der Religiösen liegt über der Religion, die das Innere nach aussen kehren, die Gott vertauscht haben gegen das, was nicht hilft.
Es ist unser Schatten, der über der uns vom Schöpfer geschenkten Lebensgrundlage liegt, wenn Schatten verhindertes Licht ist, in der Form desjenigen, der es verhindert. Nicht die anderen, wir sind es, die den Schatten werfen, die sich gebärden, wie wenn wir selber die Schöpfer der Welt wären, die verbaut, zugemauert, verstellt haben den Zugang zur Quelle des lebendigen Wassers, die vergessen haben, dass man das Wesentliche nicht selber erschaffen kann: Was uns gegeben ist, die Lebensgrundlage, das Kostbarste, was wir auf Erden haben, was der Schöpfer uns als Gaben zur Verfügung stellt: Brunnen, die das Wasser halten, Dankbarkeit für die Lebenszeit, die uns bemessen ist, Heimat, dass wir darin wir verweilen, dass die Seele zum Zug kommt.

5. Akt

Köbi Gantenbein

«Die Wurzel der Geschichte ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er das Seine in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.»

Im fröhlichen Babylon meines Berufs als Verleger und Journalist sind die ewigen Wahrheiten von Ernst Bloch ein gutes Geländer für das Herstellen von Heimat in der Landschaft. Mit Phantasie, mit Heiterkeit, mit Worten. Auch wenn ich weiss, dass schreiben und reden heisst, in einen Fluss zu spucken.


Berührt habe ich zugeschaut, wie Du zu Beginn des Gottesdienstes den munzigen Nicola Mario getauft hast. Wie die Eltern strahlten, wie die Taufe eine hoffnungstrunkene Tat ist, damit Nicola behütet durchs Leben finde. Mich berührt diese Zuversicht, denn sie hat nicht jeden Tag guten Grund. Für ein gutes Leben braucht Nicola Landschaft und ich bin so frei, zu sagen, dass schöne Landschaft – vielfältige, lebendige, gut gestaltete Landschaft – eine Hoffnungslandschaft für das Kindchen sein wird mit Stieglitzen, Dompfaffen und Pfauenaugen. Es wird dann keinen Druck und Zug im Gehirn dulden müssen, weil es Heimweh hat nach der verlorenen Landschaft. Diese Landschaft kommt nicht von selber; wir müssen sie herstellen; wir müssen sie der Unachtsamkeit von uns Wohlstandsmenschen und der Gier nach Profit für Wenige aus den Krallen nehmen.

2019 wird ein wichtiges Jahr der Landschaft und damit der Heimat. Wir werden im Februar abstimmen über die Zersiedelungsinitiative der jungen Grünen. Sie will die Substanz von Landschaft schützen – die Gebiete sichern, auf denen nicht gebaut werden kann. Und uns anregen, zu bauen, wo schon jemand ist. Es hat da noch viel Platz. Wir werden auch miterleben, wie das nationale Parlament das Raumplanungsgesetz revidiert und das Gegenteil der jungen Grünen beschliesst: Eine weitere Ausbreitung der Bauzonen mit Sonderrechten aller Art. Im Kanton Graubünden zum Beispiel stehen 30 000 nicht mehr gebrauchte Ställe ausserhalb der Bauzone. Sie sollen Ferienhäuser werden können, statt nicht mehr gebraucht einschlafen und umfallen dürfen. Das ist ein Fehler, denn zu Gunsten Weniger wird Substanz von Landschaft zerstört werden, denn wo ein Ferienhäuschen ist, ist die Zufahrtstrasse nicht weit.

Ich bin aber zuversichtlich. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben in den letzten Jahren im Bund, in den Kantonen, in den Gemeinden Gesetzen zugestimmt, die Landschaft wollen. Immer gegen eine kräftige Seilschaft der Fédération des Profiteurs. Und immer auch in guter Abgrenzung zu den Heimattrompetern, die den Fremden die Schuld am Heimat- und Landschaftsverlust geben und sie austreiben wollen, damit Landschaft gut werde. Sie wird es nicht.»

6.Akt

Ueli Greminger

Du beklagst den Schatten über der Heimat, den Heimatverlust, die Landschaftsvernichtung: die Substanz der Landschaft geht verloren. Ich höre darin unwillkürlich die prophetische Stimme:
„Mich haben sie verlassen, den Quell lebendigen Wassers und sie haben Brunnen gegraben, rissige Brunnen, die das Wasser nicht halten“.
Anstatt bei sich daheim zu verweilen, Heimat zu bewahren, ziehen wir in die Ferne und verunstalten die Welt, verlieren die Substanz, die seelische Verankerung, eben die Heimat.
Der gute alte Klaus Schädelin hat das in einer „Zytlupe“ im Schweizer Radio einst auf den Punkt gebracht:
„Morgen ist eidgenössischer Dank-, Buss- und Bettag. Man weiss, wie der Normalschweizer diesen Tag verbringt. Schon ehe der Morgen graut, hat er getankt. Und eine Stunde später kommt die Busse: weil er in einer Nische des Gotthardtunnels einige Minuten parkiert, um seine Familie so tief im Berg drin zu knipsen. Nach einer weiteren Stunde muss er beten, dass ihn die Polizei nicht noch einmal erwische, nachdem er vor Ärger über die Busse in Airolo eine Flasche Merlot gesoffen hat. Ich begreife, weshalb morgen solche Heerscharen durchs Land karren. Was will man zu Hause?“
Ja, was will man zu Hause? Ohne seelische Verankerung, ohne Heimat?
Nun wissen wir, wie Köbi Gantenbein darüber denkt und was seine politische Überzeugung ist. Und - Sie wissen, was ich darüber denke und was ich am liebsten tue: Was wir heute morgen gemeinsam tun – Gottesdienst feiern. Es ist für mich ein gutes Stück Heimat, einüben der seelischen Verankerung, bewahren der  Substanz der inneren, der seelischen Landschaft.

 

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