Köbi Gantenbein, Hochparterres Chefredaktor.

Eine Erinnerung zum Wasserzins

Demnächst beschliesst der Nationalrat über den Wasserzins. Die Biografien der Jugendlichen aus den Bergen verdanken dieser Steuer viel. Ein Ausflug in die Erinnerung.

Demnächst beschliesst der Nationalrat über den Wasserzins. 550 Mio zahlen die Stromfirmen im Jahr an die Kantone und Gemeinden, deren Wasserrechte sie ausnutzen. Der Löwenanteil geht ins Berggebiet. Der Wasserzins ist essenziell für die Landschaften in den Bergen, es ist wichtig, dass eine grosse Mehrheit des Parlaments dieser Abgabe zustimmen, denn die Stromwirtschaft wird keine Ruhe geben diesen Zins in den nächsten Jahren abzuschütteln. Dieser Zins ist für die Lebensformen und die Landschaften im Berggebiet. Er hat die Biografien meiner Generation geprägt. So auch meine. Ein Ausflug in die Erinnerung.

In Marmorera

Als Kind lebte ich in Samedan im Oberengadin, meine Familie aber kommt aus dem Prättigau. Hier wohnten meine Grosseltern, zu denen ich gerne zu Besuch fuhr. Meistens mit der Eisenbahn durch den Albulatunnel, weiter über Filisur und Davos und dann hinab nach Jenaz. Aufregung war, wenn mein Götti uns besuchte und mich in seinen knallroten VW Käfer setzte. Wir fuhren über den Julier. Nur er und ich. Beim Marmorera See gibt es einen Kiosk. Dort hielten wir an. Wir tranken Bergamotte oder Orangina. Wir assen Mandel- oder Nussgipfel. Wir schauten über den Stausee, wir spazierten über den Damm und mein Götti erzählte mir, wie das Dorf Marmorera im See hinter dem mächtigen Erdwall untergegangen war: «Die Leute von Marmorera im Oberhalbstein versammelten sich am 8. Mai 1954 ein letztes Mal in der Kirche ihres Dorfes. Sie sangen Las Mintinedas, ein wunderschönes Bitt- und Klagelied. Las Mintinedas verklangen – Marmorera ging am nächsten Tag unter. Es ruht nun am Boden des Stausees zwischen Savognin und Bivio. Aus seinem Requiem holt die Stadt Zürich seit fünfundsechzig Jahren Strom.»

Wasserzinseinnahmen der Kantone pro Jahr.

Das neue Mühlerad

«Roda mulin, ti roda mulin, vas ad incuntin», «Mühlerad, Du Mühlerad, drehe und drehe dich ohne Ende.» So dichtete Gian Fontana auf Sursilvan und Tumasch Dolf komponierte daraus ein populäres Kinderlied, das ich im Kindergarten bei Anda Cilgia lernte. Das Mühlerad dreht unaufhörlich, es schafft Reichtum. Sein Wasser sprudelt über die Rinne und ruft ins Tal hinunter fliessend: «Lebewohl» – oder eben auf romanisch so wunderschön: «pietigott.
 
Was einst in den Alpen das Mühlerad war, war nach dem Zweiten Weltkrieg die Wasserkraftturbine. Und noch heute ist sie – ächzendes – Hoffnungsrad für das wirtschaftliche Vorankommen in den Alpen. Georg Peter Luck, Grafiker und Maler, war der erste wichtige Künstler meines Lebens, denn er hat die Bilder für «Wilde Wasser – Starke Mauern» gemalt, ein Silva Buch von 1962. Der Text kommt von Max Mummentaler. Für die Nachgeborenen – Silva Buch, das war eine listige PR-Idee der Markenartikel-Firmen. Sie druckten auf ihr Banago, Maga & Floris oder die Cailler-Dessert-Schoggi Punkte je nach Wert der Ware. Die schnitt ich aus, sammelte sie und schickte sie ein. Der Pöstler brachte mir einen Brief mit Bildern. Meine Eltern kauften für wenig Geld das Buch dazu. Dort waren im Lauftext die Stellen ausgespart, wohin ich zusammen mit meinem Vater Hitsch die Bilder einklebte. So habe ich mir «Afrikas Wilde Tiere», «Alpenblumen», «Singvögel» und eben «Wilde Wasser – starke Mauern» einverleibt bevor ich das Drama des Dorfes «Fasano» im Val Verena zu lesen begonnen habe.

Das ganze Programm

«Fasano» ist Marmorera, ausgeschmückt als Heimat- und Technikroman mit dem ganzen dafür nötigen Programm. Der Gemeindepräsident Pietro Madonna sorgt für Ruhe und Ordnung. Der Pfarrer Don Borella führt seine Schäfchen zum Glauben an den Fortschritt – vor sechzig Jahren waren die Katholiken noch anders, ich las im Buch nirgends, dass der Bischof seinen Priester wegen Fortschrittsfreude geplagt hätte. Ingenieur Markwalder vertritt die Kraftwerkfirma, er erklärt geduldig den Fortschritt und verspricht reiche Ernte für alle, er organsiert alles und wird der beste Freund des Gemeindepräsidenten. Dem verspricht er bei Gelingen des Kraftwerks die Stelle als Wirt der Kantine. Und eine Liebesgeschichte gibt es auch. Auf der Baustelle arbeiten mehrere hundert Arbeiter. Für sie gibt es ein eigenes Dorf, ein Spital, einen Laden, ein Kino, eine Bank, einen Coiffeursalon und eine Post. Renzo, der Sohn des Capo und das Postfräulein bändeln eine Liebelei an und heiraten schliesslich mit einem grossen Fest.

Der Gehilfe des Ingenieurs

Zuerst sind alle Menschen in der Val Verena gegen das Kraftwerk. Der Pfarrer, der Capo und der Ingenieur drehen alle um. Nur Ephraim Cavalli, der schwarze Ephraim, wehrt sich. Grundsätzlich und weil er sein Schmugglergewerbe gefährdet sieht. Er wird zum Desesperado der Alpen. Ich aber ging in der Rolle seines Sohns Fernando auf. Ich wurde Gehilfe des Ingenieurs Markwalder. Ich lernte Land vermessen, ich lernte Geologie, ich liebte den technischen Fortschritt. Nachdem mein Chef Markwalder die Stimmung in der Gemeinde umgedreht hatte, nachdem also Kraftwerk, Stausee und Staumauer froh begrüsst wurden, regierte er eine pharaonische Baustelle. Das Buch erzählt sie anschaulich. Und ich, Fernando, war überall dabei als des Chefs Gehilfe. Ich sass im Kino, eigens gebaut für die hunderte Mineure und Kranführer, ich ass mit ihnen in der Kantine Makkaroni mit Tomatensugo, ich sang mit ihnen Lieder gegen das Heimweh. Ach je – wie hat die grosse Baustelle am Kraftwerk Fernando die Welt geöffnet, wie hat sie also auch mich und das Dorf mit der Welt verbunden. Endlich. Und ich sage gerne und überzeugt, das Kraftwerk hat auch mir, dem Lokiführerbub, Zukunft gegeben. Seine Profite haben geholfen, den Kanton Graubünden an die Moderne anzuschliessen. Sein Geld hat zum Beispiel geholfen, dass die Mittelschulen ausgebaut worden sind und die Unterlandfahrt an die Universität auch für meinesgleichen möglich wurde. Nicht nur, aber auch – die Stromwirtschaft hat den Kanton Graubünden in den Fünfziger und Sechziger Jahren zu einem normalen Schweizer Kanton gemacht, seine Gesellschaft geöffnet und Luft hereingelassen. Sie hat für diesen Preis nicht nur billigen Strom, sondern auch grossen Profit aus den Bergen ins Unterland gezogen, denn die Stromwirtschaft ist zwar in staatlichem Besitz, aber vielfältig mit privaten Kapitalgebern verwickelt.

Der Wasserzins im Schulhaus

Als Bub war ich ab und zu zu Besuch in Zillis, wo Angela wohnte, eine Freundin meiner Mutter und Dorflehrerin. Mir fiel natürlich auf, wie viel schöner, grösser und besser eingerichtet ihr Schulhaus war als meines. Wie grossartig war die Schulküche, alles schien es da zu geben für die Kochschule: einen Elektroherd zum Beispiel mit einem Schublädchen unter den Heizplatten. Lief etwas über, so rann es da hinein. Und in der Turnhalle schliesslich standen die neusten Turngeräte von Adler & Eisenhut. In Malans, wohin meine Familie aus dem Engadin mittlerweile gezügelt war, hatten wir weder eine Werk- noch eine Kochschule, kaum eine Turnhalle – denn die Ziraner hatten etwas, was wir nicht hatten – den Wasserzins, den die Kraftwerke für ihre Kilowattstunden abgeben mussten.

Band 2 wird fällig

In ein paar Jahren werde ich mich als Nachfolger von Mummenthaler und Luck daran machen, den zweiten Band von «Wilde Wasser – Starke Mauern» zu zeichnen und zuschreiben. Denn das Publikum will wissen, wie es mit Fernado, Ingenieur Zelleweger und allen weiter gegangen ist. Ich werde berichten wie dramatisch die Ausbeutung der Bäche und Flüsse die Landschaft, wie tiefgreifend das Ertrinken des Val Verena die Gesellschaft Graubündens verwandelt hat. Renzo der Sohn des Capo, der das Postfräulein geheiratet hat, wird in meinem Fortsetzungsband sozialdemokratischer Regierungsrat werden. Er wird in der Arena des Schweizer Fernsehens sitzen und die Besserwisser, die seinen Kanton als alpines Armenhaus verlachen, mit ein paar Tatsachen deckeln. «Die Fakten, meine Herren», wird er in die Kamera rufen, «haben Sie vergessen. Graubünden produziert 8000 Millionen Kilowattstunden Elektrisch im Jahr. Das sind mehr als ein Fünftel der Energie der Schweiz. 40 Kraftwerkgesellschaften, die 55 Landschaften mit Staumauern unter Wasser gesetzt haben, sorgen dafür, dass Euch im metropolitanen Raum die Lichter für eure klugen Gedanken nicht ausgehen. Wir aber lassen es gar grosszügig gut sein mit etwas Wasserzins. Die Steuersitze der Gesellschaften aber», wird Renzo mit rotem Kopf wettern, «haben über all die Jahre im Unterland fetteste Gewinne abgetragen, wir werden uns damit nicht mehr zufrieden geben.» Und sie streiten ergebnislos noch lange.

Substanzielle Wirtschaft

Ich werde aber auch staatstragend dichten, so wie Mummenthaler und Luck im ersten Band. Ich werde nachzeichnen, wie im Kanton Graubünden gut 500 Arbeitsplätze entstanden sind für Schlosser, Elektriker, Maurer, Schreiner oder Informatiker, die den Unterhalt der Werke besorgen. Dazu Verwalterinnen, Stromhändler, Ingenieure, Buchhalterinnen und Unter- und Oberchefs. Und hunderte Lieferanten vom Metzger für die Bratwürste der Verwaltungsratsitzungen bis zu den Lehrerinnen für die Kraftwerkkinder. Wir werden Bilder sehen, wie traute Familien in Safien im Stubenlicht aus Gratisstrom Znacht essen und ihr Zimmer fast gratis elektrisch heizen. Ein Kapitel wird nachzeichnen, wie Wasserzinsgemeinden den Geldsegen verschwenden, um über Jahrzehnte die Steuern absurd tief zu senken. Was natürlich keine Entwicklung bringt. Und im andern Kapitel sehen wir das Gegenteil: Maurizio, der zweite Sohn des schwarzen Ephraim zieht nach Vals. Er wird dort Hotelier und hat mit einer Gruppe Aufgeweckter mit dem Wasserzins-Geld aus Zerfreila das verkommene Hotel Therme wachgeküsst dank eines Badbaus von Peter Zumthor. Und auch das Drama werde ich in bunten Farben ausmalen, wie die Valser den Fortschritt aus dem Wasserzins eine Generation später verdummt und vernichtet haben, die Therme einem mysteriösen Mann des Geldes überlassend.

Öhi Michel und Bäsi Maria

Der Strom war die wichtigste technische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderung der Schweiz im 20. Jahrhundert. In meinem jungen Lebensfaden habe ich seine Wirkung unmittelbar erlebt. Im Sommer war ich als Knecht bei einem Onkel meiner Mutter in Furna auf Saison. Meine Erinnerung ist idyllisch und überformt von Schönheit. Melken von Hand, Holz sägen auch, Kochen am Feuer – Öhi Michel war ein wendiger Feuerkoch und Flammensenn. Bäsi Maria, eine kluge und schöne Frau, lebte mit der Sonne. Viel erfindungsreiche Achtsamkeit am Tag und geheimnisvolles Leuchten aus der Petrollampe am Abend und eine dunkle Nacht. Schön vor allem, wenn es nicht regnete und wohl auch im Wissen, dass ich im Herbst wieder ins Tal konnte. Die Furner hatten Angst vor dem Strom, denn 1923 hatte eine Pleite der Bündner Kraftwerke die kleine Gemeinde ruiniert. Ausserdem war man auch skeptisch wegen der Feuerfäden in der Glühlampe und wollte das Geld der Gemeinde lieber für einen neuen Alpstall eingesetzt wissen. Doch dann war es so weit – ich war leider nicht dort, liess es mir aber immer wieder erzählen: Das elektrische Licht und der Strom aus der Steckdose kamen auch in Furna an, das letzte stromlose Dorf in Graubünden begann 1968 zu leuchten. Mein Öhi Michel war glücklich samt Bäsi Maria – endlich Strom.

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