Jakob empfiehlt für die seltsamen Ostern 21 eine besondere Aufführung der Johannespassion.

Coronatrost mit Johannespassion

Auch dieses Jahr wird andere Ostern sein. Da ist eine Erinnerung an Johann Sebastian Bach tröstlich. An eine Aufführung der Johannespassion. Ich werde ihr am Karfreitag zuhören.

Das eine Jahr ist mein Johannes- das andere mein Matthäusjahr. Wenn die Zeiten normal wären, wäre ich nun unterwegs in eine Stadt, wo die Johannespassion aufgeführt wird, denn dieses Jahr ist Johannesjahr. Aber sie wird nirgendwo zu hören sein. Also tröste ich mich mit einer Version, die das «Podium Esslingen» schon ein Jahr vor der Seuche eingerichtet hatte, und die am letzten Karfreitag in der Leipziger Thomas-Kirche anstatt einer rauschenden Bachfeier aufgeführt worden ist. Sie war und ist herzhaft klingender Trost auf die Zumutungen unserer schwierigen Zeit. Ich werde sie wieder hören, obschon ich von «Livestreams» die Ohren, die Nase und das Gemüt voll habe. Es ist eine Kammer-Corona-Johannespassion. Es gibt noch keine CD der Aufführung, aber es gibt eine Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks mdr, die über Youtube einfach zugänglich ist. 

Der isländische Tenor Benedikt Kristjansson steht allein im grossen Chor und singt alle Partien von Jesus über Petrus, Judas, Pilatus, Kaiphas bis zum Erzähler. Elina Albach sitzt am Cembalo und an der Orgel und Philipp Lamprecht an der Percussion – Marimba, Trommeln und Schlagzeuge aller Art. Für die Choräle sind Sängerinnen und Musiker aus aller Welt zugeschaltet. Die Aufführung hat eine eindrückliche Zeitgenossenschaft. Der Sänger, die Cembalistin und der Perkussionist schaffen es, einen Raum der Erinnerung aufleben zu lassen. Und wir hören schmerzlich, was alles fehlt, wenn Kunst auf den Raum, seine Fülle an Klang und sozialer Begegnung verzichten muss. 

John Elliot Gardiner hat als Dirigent massgebende Aufführungen und CDs der Johannespassion gemacht. Er hat auch das mir liebste Buch über Johann Sebastian Bach geschrieben. Da der Mensch auch hört, was er weiss, lese ich in meinem Bach-Monat März immer in diesem Mocken. Er schreibt, dass die Johannespassion «ohne Frage ein Akt des Glaubens» sei. Das trifft nicht zu für mich, denn ich habe auf meinem Lebensfaden diesen «Akt» verloren. Sie ist aber eine Quelle von Zuversicht für mich, den Melancholiker. So wie der Eingang «Herr, Herr, Herr...» mich überwältigt, treibt mir das letzte Lied nach fast zwei Stunden die Tränen in die Augen: «Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine», ein komplexes Gefüge aus Klängen tanzt als warmer, lyrischer Trost durch das Kirchenschiff, oder morgen eben durch die hölzerne Stube in meinem alten Haus. Fast zehn Minuten dauert er, die Instrumente beginnen, sie schweigen, nur der Chor singt. Die Version von Kristjansson und den Seinen ist etwas kürzer. Er singt das Lied mausallein im grossen Kirchenraum ohne seine Begleiterin und seinen Begleiter. Und es tönt wie ein Requiem auf all die Not, die so viele Menschen in diesem ersten Coronajahr haben erleiden müssen.

Doch bevor ich in der Wehmut versacken werde, weiss ich: Nun setzt der letzte Choral ein. Die Organistin und der Trommler treten zum Sänger. Das Schlusstrio beginnt in der Grabesruhe und gewinnt an Schwung bis zum Schlussvers: «Erhöre mich, erhöre mich, Dich will ich preisen ewiglich». Auch wenn ich nicht religiös bin, die grosse kulturelle Kraft der Passionsgeschichte in Bachs Musik, berührt und beeindruckt mich. Nachdem mit allen Mitteln der Kunst und grossem dramatischem Gespür die Geschichte des Mordes an Jesus aufgeführt ist und mit dem letzten Chor aus der Grabesruhe Musik geworden, beleuchtet Johann Sebastian Bach nun Ostern bengalisch: Die grosse Hoffnung, dass alles doch noch gut kommt. Natürlich werde ich auch diesen wie alle Choräle mitsingen. 

Seit der Uraufführung der Johannespassion 1724 hat die Welt viele Kriege, Hungersnöte, Seuchen, Zerstörungen, Katastrophen erleben müssen. Aber auch Hoffnung erfahren – die Nicolai Kirche, wo Bach die Passion erstmals aufgeführt hat, war 1989 der Ort, wo der gewaltlose Untergang der DDR geschah. Morgen, am Karfreitag, in dieser mich ab und zu überwältigenden Coronazeit, vermag die Johannespassion mich zu trösten. Und ich freue mich auf den Karfreitag 2022, dann werde ich irgendwo sehen und hören, was mir dieses Jahr unmöglich war. Es wird das Matthäusjahr sein. 

 

 

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