Mit Raupen angetrieben ist der auf einer Achse balancierende Rollstuhl ‹Scewo Bro› auch auf Treppen, rutschigen oder unebenen Untergründen sicher unterwegs. Fotos: zvg

Treppauf, treppab rollen

Elektromobil, wendig und trendig: Ein treppensteigender Rollstuhl hilft gehbehinderten Menschen im Alltag.

Einmal auf das Smartphone an der Armlehne des Rollstuhls getippt, und schon kann es losgehen. Es schnurrt, der Sitz bewegt sich schräg nach oben und pendelt kurz. Der Designer Thomas Gemperle deutet auf einen kleinen Joystick, den es nun sachte zu bewegen gilt. Prompt setzt sich der Einachser in Bewegung, rollt nach vorne, rückwärts und wendet auf der Stelle. Agil macht er das, selbst auf kleinstem Raum lässt sich der ‹Bro› exakt steuern. Zum Beispiel im Büro der Firma Scewo in Winterthur, das zugleich Werkstatt, Konstruktionslabor, Präsentations- und Besprechungsort sowie Teststrecke ist.

… Treppen steigen, auf Augenhöhe kommunizieren, am Tisch sitzen …

Die Lösung der Treppenfrage

Momentan ist das Gefährt noch ein Prototyp, das Zwischenstadium eines Fahrzeugs, das mehr sein will als ein elektrisch angetriebener Rollstuhl. Tragkonstruktion, Kinematik und Antriebe bleiben unter der Karosserie verborgen. LED-Streifen illuminieren Rückseite und Front. Wer genau hinschaut, erkennt zwei Ausleger mit raupenartigen Bändern – der Clou des schicken Gefährts.

«Jetzt fahren Sie mal rückwärts an die Treppe heran», fordert Gemperle auf. Wird nun vom Normalmodus auf den Treppenmodus geschaltet, transformiert sich der Rollstuhl, fährt zwei Raupen aus, hebt sich an, kippt leicht nach hinten und beginnt, sich rückwärts die Testtreppe hochzuarbeiten. Das passiert nicht schnell, aber beständig und sicher. Die Laufräder haben nun keinen Kontakt mehr zur Treppe, allein die Raupen und zwei Hilfsräder hinten übernehmen die Arbeit. Und die ist real, denn nicht nur die 120 Kilogramm des Fahrzeugs, auch das Gewicht von Passagierin oder Passagier wollen bewegt sein. «Die Raupen haben stets vier Kontaktpunkte mit der Treppe, damit ist die Sicherheit gewährleistet», beruhigt Gemperle. Er hat den fragenden Blick in den wachsenden Abgrund neben der schmalen Treppe sehr wohl registriert.

Mit heruntergeklappter Sitzlehne fährt der Rollstuhl per App ferngesteuert über eine Rampe in den Laderaum eines Autos.

Der auf einer Achse balancierende ‹Bro› erinnert an einen Segway, doch tatsächlich diente nur dessen Prinzip als Inspiration. «Als Plattform für unseren Einsatz wäre ein Segway ungeeignet», sagt Gemperle. Er verantwortet nicht nur das Design bei Scewo, sondern gehört zu den drei Gründern des Start-ups. «Wir haben alles selbst aufgebaut, inklusive der Steuerungssoftware. Das erlaubt es uns, Funktionalitäten flexibel anzupassen.» Zum Beispiel das Treppensteigen: «Zuerst wollten wir einen treppensteigenden Roboter konzipieren, daraus wurde aber schnell ein Rollstuhl», erinnert sich Gemperle an das Jahr 2014. Damals fanden sich zehn Studierende der ETH Zürich und der ZHdK. Den Rahmen bildete ein interdisziplinär angelegtes Hochschulprojekt (siehe Hochparterre 8 / 15). Es verbindet Bachelors aus Maschinenbau und Engineering sowie Industrial Design.

Am Ende der einjährigen Projektzeit stand ein voll funktionsfähiger Prototyp, damals noch ‹Scalevo› getauft. Youtube-Videos riefen recht schnell Interessenten für das Fahrzeug auf den Plan – «also haben wir weitergemacht», so Gemperle. Testfahrten mit potenziellen Nutzern brachten neue Erkenntnisse. Sie flossen Stück für Stück in die Weiterentwicklung ein. Diese stand dann 2016 beim Zürcher Cybathlon bereit, ein Wettkampf, bei dem Menschen mit Behinderungen mithilfe technischer Assistenzsysteme Alltagsaufgaben bewältigen, zum Beispiel einen Parcours mit motorisierten Rollstühlen absolvieren. Das Team Scewo scheiterte jedoch spektakulär. Was war passiert? «Unser Fahrer war bei der Wettbewerbsfahrt so aufgeregt, dass er versehentlich den Not-Aus-Knopf drückte», so Gemperle. «Leider hatten wir den Restart-Button falsch positioniert, nämlich unter dem Sitz. Eigentlich kein Problem, doch das Anheben des Fahrers bedeutete die Disqualifikation. Aber wir konnten jede Menge Feedback und Kontakte sammeln.» Also doch ein Erfolg, trotz allem.

Der Rollstuhl ‹Bro› von Scewo präsentiert sich als Mobilitätstool. Mit seinen vielen Nutzungsmöglichkeiten ist er ein Beispiel für nicht-stigmatisierendes Design.

Auf Tisch- oder Augenhöhe

Inzwischen bewegt sich der Rollstuhl wieder die bürointerne Holztreppe hinab, ungleich geschmeidiger und geschwinder als hinauf. Auf dem Fussboden angekommen setzt das Gefährt auf seinen Haupträdern auf, die Raupen fahren ein, und der Sitz geht für die Fahrt auf der Ebene leicht schwingend in die Horizontale über. Das Maximaltempo zehn Kilometer pro Stunde wäre so erreichbar.

Gemperle zeigt derweil ein weiteres Feature. Durch das Antippen eines Buttons in der App fahren Raupen und Hilfsräder erneut aus, um das Fahrzeug fest auf dem Boden zu parkieren. Dann schiebt sich die in schrägen Traversen gelagerte Sitzfläche gleichzeitig nach unten und nach vorne, bis zu einer Sitzhöhe von 47 Zentimetern, passend für einen Tisch. Während der Fahrt sitzt man auf einer Höhe von 60 Zentimetern. Der Sitz lässt sich aber bis auf 90 Zentimeter nach oben fahren. So kommt der Bancomat in Reichweite, der Ticketschalter, das Supermarktregal oder die Kommunikation auf Augenhöhe. Eine ‹Relax›-Funktion verwandelt den Stuhl abermals: in einen bis zu 37 Grad nach hinten geneigten Liegestuhl.

Gesteuert wird über einen Joystick, der in die höhenverstellbare Armlehne integriert ist.

Das Design mitgedacht

Nach dem Cybathlon und dem Abschluss des Studiums schrumpfte das Team auf die Ingenieure Bernhard Winter und Pascal Buholzer und den Designer Thomas Gemperle zusammen. Im August 2017 gründeten sie das Start-up Scewo, holten zwei weitere Mitarbeiter an Bord und zogen in den Technopark nach Winterthur um. Der Businessplan war längst geschrieben, das Startkapital kam zunächst von Sponsoren und einigen Privatinvestoren. Zwei Preise, einer der ETH Zürich sowie der ZKB-Pionierpreis 2018, spülten weiteres Geld in die Projektkasse. Daraus werden aktuell zwölf Personen bezahlt – und die komplexe Entwicklung selbst. Spätestens im Frühsommer dieses Jahres möchten die drei Jungunternehmer daher eine zweite Investorenrunde starten.

Die Kooperation zwischen den Hochschulen ETH Zürich und ZHdK zielt darauf ab, Engineering und Design füreinander zu sensibilisieren. Das ist beim Scewo-‹Bro› gelungen. Dessen Gestaltung erinnert bewusst nicht an medizinische Hilfsmittel. Den Stigmatisierungsverdacht räumt das Design aus, indem nicht an einen Rollstuhl, sondern an andere Formen der Mobilität erinnert wird: «Wir haben uns an automotiven Konzepten orientiert, eine schwungvolle Linienführung gewählt», erläutert Gemperle.

Eine schlüssige Formensprache zu finden, ist angesichts der Transformationszustände dieses Gefährts keine einfache Aufgabe. Vor allem die Raupen bleiben kaum zu integrierende Komponenten. Zugleich signalisiert der Rollstuhl so, dass er nicht nur die horizontale Bewegung beherrscht, sondern Treppen überwinden kann, eines der grossen Hindernisse für Menschen im Rollstuhl.

Der elektrische Antrieb mit seinen 48 Volt ist auf dem Stand der automotiven Technik. Ein Lithium-Ionen-Akku speichert die Energie.

Vom Prototyp zum Serienanlauf

Ende 2019 sollen die ersten Auslieferungen beginnen, zunächst in der Schweiz per Direktvertrieb. Testfahrten und Bestellungen sind bereits möglich. Ein ehrgeiziges Terminziel, steht doch nun der Schritt zur Serienfertigung an. «Dafür werden wir alle Komponenten nochmals anpassen, durchdenken und, wo notwendig, montagegerecht ändern», sagt Gemperle. In überschaubaren Losgrössen soll dann die Fertigung anfahren, mit Partnern aus der Schweiz und in manufakturellen Prozessen. Nebenbei stehe Scewo auch im Austausch mit Versicherungen, die den Rollstuhl den Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung stellen und bezahlen sollen.

Der Preis? «Wir werden den Scewo-‹Bro› für rund 35 500 Franken anbieten», sagt Gemperle. «Das hört sich nach viel Geld an, aber bei einem Elektrorollstuhl ohne weitere Funktionen ist man auch schnell bei 25 000 Franken.» Also ohne Treppensteigen, ohne Tisch- und Ruhefunktion und ohne das durchdachte Design, das gestalterisch auf der Höhe aktueller Mobilitätsangebote liegt.

 

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 3/2019 der Zeitschrift Hochparterre.

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