Oliviero Toscani, gesehen von Marwan Abdalla. Courtesy Museo m.a.x., Chiasso Fotos: Intro: Marwan Abdalla

Oliviero Toscanis Bilderwelten

Oliviero Toscani lernte von 1961 bis 1965 an der Kunstgewerbeschule Zürich Fotografie. Gestern erhielt er den ZHdK-Ehrentitel «Honorary Companion»; die Laudatio hielt Hochparterre-Redaktorin Meret Ernst.

Oliviero Toscanis Berufswunsch stand früh fest in dieser Familie, für die Fotografie das tägliche Brot bedeutete. Von seinem Vater, dem Fotoreporter Fedele Toscani, hatte sich der Fünfjährige einst eine der herumliegenden Kameras geschnappt. Die Dunkelkammer war ein Ort des Spiels, nicht des Schreckens. Seine um elf Jahre ältere Schwester Marirosa führte mit ihrem Mann Aldo Ballo ein Fotostudio, das den Aufstieg des italienischen Designs der Nachkriegszeit begleitete. Fotografie, Kino, Werbung – das interessierte Oliviero mehr als das staubtrockene Gymnasium. Doch der Vater, Autodidakt, bestand auf einer professionellen Fotografen-Ausbildung. In Italien gab es nichts Passendes. England vielleicht? Sein Schwager Aldo Ballo machte ihn schliesslich mit Serge Libiszewski bekannt. Dessen Arbeiten für das Kaufhaus La Rinascente waren ihm aufgefallen. Zusammen mit Lora Lamm und Max Huber hatte Libis, wie er gerufen wurde, aus Zürich einen frischen Stil nach Milano gebracht. Libis knüpfte den Faden an die Kunstgewerbeschule und fuhr Oliviero an die Aufnahmeprüfung. Zwei Mädchen eilten dem gutaussehenden Italiener zu Hilfe und übersetzten die Aufgaben: Es galt, ein Geräusch zu visualisieren, das hinter dem Rücken der Prüflinge gemacht wurde. Ein Kegel sollte in Schnitte zerlegt und dargestellt, der Weg von einem Schulzimmer in ein anderes aus dem Gedächtnis nachgezeichnet werden. Der Bär, den Oliviero aus dem Klumpen Lehm geformt hatte, glich eher einem Schwein. Zurück in Milano sagte er zu seinem Vater: «Vergiss Zürich, das schaffe ich nie.»

 

Auf nach Zürich

Und wie er es schaffen sollte. Die Ausbildung schloss er mit der Bestnote ab. Ebenso wichtig wie der schulische Erfolg war das Umfeld. – In der kleinen Stadt mit dem protestantisch-engen Lebensgefühl, in der fremden Sprache machte er sich heimisch. Die Prä-68er-Generation hörte die Rolling Stones und Bob Dylan. Die Haare wurden länger, die Mädchen emanzipierter. Die Dunkelkammer erlaubte Annäherungen im Verborgenen. Studienreisen weiteten den Blick. Der Bau der Berliner Mauer, die Kubakrise und die Ermordung Kennedys politisierten die Schülerinnen und Schüler. Sie fühlten sich verbunden durch das Bewusstsein in einer Epoche des Aufbruchs zu leben, zugehörig einer Generation ohne Kriegserfahrung. Mit einem unbändigen Zukunftshunger, «geprägt durch unabhängige und klare Wertvorstellungen und mit hohen Idealen», wie Toscani formulierte. Hier schloss er Freundschaften fürs Leben.

Angewandte Fotografie war das Lernziel. Was jeweils in der ersten Wochenhälfte fotografiert wurde, musste in Plakate, Bücher, Broschüren oder Portfolios übertragen werden. Als Leiter der Fotoklasse versachlichte Walter Binder den Blick auf den Gegenstand: Vor der Gestaltung komme die Analyse des zu Gestaltenden, dozierte er. Serge Stauffer öffnete das Medium hin zur Montage und lebte vor, wie ihn Marcel Duchamp, wie ihn die zeitgenössische Kunst inspirierten. Der Freigeist gründete später die alternative Schule F&F, seinen Kindern sollte Toscani ein geschätzter Patenonkel sein. Der Foto-Techniker Siegfried Zingg vermittelte Präzision und Sorgfalt des Handwerks. Und der Grafiker Jörg Hamburger sensibilisierte seine Schülerinnen und Schüler für das Verhältnis, das Text und Bild eingehen.

 

Bewährungsproben

In der Ausbildung probiert man handlungsentlastet Dinge aus, in einem geschützten Raum, in einer beschränkten Öffentlichkeit. Ohne Auftraggeber, die mäkeln, und ohne ökonomischen Druck, der zu Abkürzungen zwingt. Es ist die Zeit, Wagnisse einzugehen und Fehler zu machen. So häufen Studierende das intellektuelle und gestalterische Kapital an, von dem sie später leben werden. Ausbildung ist ein aufgeschobener Tatbeweis: Ob der Vorrat an gestalterischen Strategien genug gross ist, wird sich erst zeigen.

Oliviero Toscani war gut gerüstet, als er Mitte der Sechzigerjahre die Schule verliess. Schon bald fotografierte er für Zeitschriften wie Elle, Vogue, Harpers’ Bazaar, und er sollte als kreativer Kopf hinter Marken wie Fiorucci, Esprit, Robe di Kappa, später Benetton und vielen mehr bekannt werden. Er hatte die Technik so gut im Griff, dass sie ihm zudiente. Toscani lieferte sich dem fotografischen Apparat nie aus. Auch deshalb bestand er die disruptiven Wechsel von der analogen zur digitalen Bildwelt. Die Kamera war ihm nie ein Fetisch. Fotografie schreibt er stets mit einem kleinen «f». Sie ist Mittel zum Zweck. Zwischen angewandter und Kunstfotografie macht er folglich keinen Unterschied. «Kunst ist, wenn Kommunikation mehr ist als das, was du sehen kannst», sagte er. Auch das habe er an der Schule gelernt.

 

Das Interesse an den Menschen

Toscani interessiert sich für alles, aber nur insofern, als es menschliche Belange betrifft. Im schier unüberblickbaren Werk fällt sein radikales Interesse an den Menschen auf. Es kulminiert im Projekt Razza Umana, das er 2007 startete. August Sander, der grosse Porträtist, gehöre zu seinen Vorbildern, bestätigte er. Die Porträtkunst wendet er dabei in eine Fotografie, die politisch ist. Die sich kümmert und Position bezieht. Gegen Rassismus, zum Beispiel.

Seine Lesart der concerned photography lebt von der Ernsthaftigkeit des Autors, der seine Geschichte mit fotografischen Mitteln erzählt. Denn Toscani muss seine Bilder erfinden, selbst wenn er sie vorfindet. Dem Vorbild seines Vaters, der um die Welt reiste und dokumentierte, was war, wollte er nicht folgen. Und doch prägte ihn der wache, weltzugewandte Blick des Reporters auf das, was ist. Seine Fotografie ist gleichfalls Zeuge der Gegenwart, muss es sein, um in die Breite zu wirken. In den Geschichten, die sie erzählt, will er die gesellschaftlichen, politischen, ethischen und ästhetischen Bedingungen offenlegen, unter denen wir leben. Toscani zeigt den Skandal der Hartherzigkeit gegenüber AIDS-Opfern als Pietà; die Zumutungen der Mode im Akt des magersüchtigen Models; die Erinnerung an ein Massaker des 2. Weltkriegs in den alterszerfurchten Gesichtern der Zeugen, die damals Kinder waren. Aber auch das Wunder der Geburt, den Trost der Gemeinschaft und immer wieder die Feier kultureller, ethnischer, sexueller Vielfalt. Die Werbung, die ihn als System im Übrigen nicht interessiert, dient dem Provokateur als machtvolles Vehikel.

Den Auslöser zu drücken, reicht nicht. Fotografie passiert lange davor. Das lehrt uns Oliviero Toscanis Werk und das erforscht er seit seiner Ausbildung mit grosser Hartnäckigkeit, in seinen Bildern, in seinen Forschungen und seinem sozialen Engagement. Grund genug, ihm den Honorary Companion Award zu überreichen. Eine Auszeichnung, die er, wie er sagte, anders als Branchen-Preise gerne persönlich entgegennehme. Weshalb, wird er Ihnen gewiss erklären wollen.  

Besten Dank.

 

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Kommentare

Lilia Glanzmann 25.10.2018 16:29
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