Claude Schelling mit dem Modell einer Wohnsiedlung auf einer Autobahn. Bild: Christian Schnur

Rückeroberung und Mehrfachnutzung

Wie lässt sich Autofahren mit städtischer Lebensqualität verbinden?, fragte sich Architekt Claude Schelling ein Berufsleben lang. Nun fasst ein Buch seine Vorschläge zusammen.

«Die heutigen Verkehrsmittel und Verkehrswege sind zu akzeptieren. Autos und Strassen gehören zu unserer Gesellschaft. Das lässt sich nicht wegdiskutieren, aber deswegen brauchen wir uns nicht vom Verkehr beherrschen zu lassen.» Der Architekt Claude Schelling ist Realist. Mit dem Auto aufgewachsen ist er auch. Doch fragte er sich ein Berufsleben lang, wie man das Auto zähmen könnte. Anders herum, wie kann man städtische Lebensqualität mit Autofahren verbinden?

Indem man, erstens zweistöckige Strassen baut und zweitens die Autobahnen überbaut. Somit hat sein Buch «Begegnungsraum Strasse» zwei Botschaften: Die Rückeroberung des Stadtraums und die Mehrfachnutzung der Autobahn.
Zurückerobern warum? Weil, wie Schelling nachweist, wir den städtischen Raum verloren haben, genauer, die Menschen wurden daraus verdrängt, weil die Autos sich breit machten und den Platz für sich beanspruchten. Noch als Schelling ein Schulbub war, konnte er und seinesgleichen auf der Strasse Fussball spielen. Heute bewahren Helikoptereltern ihre Kinder vor dem Überfahrenwerden. Was tun? Man muss die Oberfläche den Fussgängern zurück geben und die Autos darunter in unteririschen Kanälen führen. Das tönt einleuchtend, doch verlangt es die Probe aufs Exempel. Die liefert Schelling im Kreis 4, in Aussersihl. Er hat sich das Zürcher Quartier genau angesehen und schlägt eine machbare zweite, tiefere Ebene vor, wo Autoverkehr und Anlieferung stattfinden. Seine Darstellungsmethode ist altbewährt: Vorher/Nachher. Zuerst die Hohlstrasse heute, ein Verkehrskanal, dann ein Bild daneben, die Hohlstrasse morgen, ein städtischer Lebensraum. Schelling begnügt sich nicht mit überzeugenden Bildern, er rechnet auch nach und kommt zum Schluss: Es lohnt sich. Gesellschaftlich und finanziell. Man muss es nur wollen, ist er überzeugt.

Die Autobahnen sind zwar die heutigen Lebensadern der Schweiz, doch Lärm und Gestank machen sie unerträglich. Das ist unterdessen anerkannt und wird mit untauglichen Abwehrmassnahmen wie Flüsterbelägen, Schallschutzwänden und Lärmschutzfenstern bekämpft. Teures Gehampel! Klüger ist es, die Autobahn, dort wo die Not am grössten ist, zu überbauen. Das sind auch Abschnitte, die am Rand der Städte liegen und damit auch am Markt. Not und Nachfrage gehen Hand in Hand. Schelling zeigt drei klug gewählte Übungsbeispiele: Eine Autobahnüberbauung „Glatt“ in Wallisellen Süd, das Dreieck Bern-Ost-Muri und im Wangental in der Gemeinde Köniz. Jedes dieser Exempel wird wiederum mit dem System Vorher-Nachher erklärt und niemand, der bei Trost ist, wird das Vorher besser finden. Die Kostenrechnung folgt und ist auch hier gewinnbringend. Am Schluss untersucht er das Plus und Minus der Operation, nennt die Widerstände und ihre Gründe, die er in einem Argumentarium zurecht rückt.

Der Stadtwanderer liest und schaut und denkt: Schelling hat recht. Nötig wäre es auch. Geld dafür haben wir, wenn wir’s haben wollen. Warum gründet der Stadtwanderer nicht sofort einen Verein zur Verwirklichung? Weil er unterdessen den grossen Würfen misstraut. Die Untertunnelung der bestehenden Stadt ist ja keine brandneue Idee. Um 1900 war das ein Thema der Unterhaltungsblätter. Schelling nimmt das auf und denkt es durch. Man kann seinen Vorschlag nicht als Spinnerei unter den Tisch wischen. Dafür ist er zu sorgfältig und auch zu vernünftig. Alles, was er vorträgt ist folgerichtig und wahr. Doch steckt eine Technoromantik drin. Dem Ingeniör ist nichts zu schwör, sprach Daniel Düsentrieb. Ist es die Bekämpfung des Alkoholismus mit Schnaps? Das Auto akzeptieren heisst eben doch, dem Auto zu dienen. Allerdings hat Schelling mit der Gartensiedlung Furttal 1979 und der Siedlung Esplanade in La Chaux-de-Fonds von 1995 eins zu eins bewiesen, dass seine zweitstöckige Erschliessung funktioniert. Zwei Projekte übrigens, die weder von den Architekten, noch den Architekturschreibern je wahrgenommen wurden. Noch sind sie zu entdecken.

Zukunftsträchtiger scheint dem Stadtwanderer die Mehrfachnutzung der Autobahn. Die Schneisen verschwinden, der Lärm verstummt, der Gestank wird gefiltert. Die Überbauung wird zwar kilometerlang, aber sie ist etappiert und kommt nicht als ein Gebäude daher, sondern als grünes Band, in das Häuser eingestreut sind. Wenn man bedenkt, wie saftlos die Einhausung in Schwammendingen nun verwirklicht wird, so wünscht man sich dort Schelling am Werk.  
Das Buch ist eine Zusammenfassung, das Ergebnis von jahrzehntelangem Nachdenken. Da zählt einer zusammen. Er tut dies wie er es gelernt hat: mit praktischer Vernunft. Gemeint ist die Machbarkeit. Ein Architekt zeigt, was möglich ist, genauer, wäre. Ein sorgfältig gemachtes Buch ist es auch.

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