Das Buch ist eine Fahrt durch die letzten fünfzig Jahre, schreibt der Stadtwanderer.

René Haubensak

Es ist ein Andenkenbuch, eine respektvolle Verneigung. Der sonderbare Architekt darf nicht in Vergessenheit geraten. Mir wird er immer gegenwärtig bleiben, denn er war ein Charakter.

Mit ihm habe ich mich jedes Mal gestritten, mit René Haubensak (1931-2018). Nicht feindlich, aber in der Sache. Dabei, so schien es mir jedenfalls, war ich doch seiner Meinung. Nur, was war seine Meinung? Sie hiess Versöhnung. Meine war Kampf. Doch der Reihe nach.

Im Frühling 1971 fand im Kunstgewerbemuseum die Ausstellung «Zürich plant – plant Zürich?», die wichtigste Ausstellung des Jahrzehnts, ein Augenöffner. Zu sehen war eine der ersten Einsprachen gegen das Ypsilon, die Verkehrspolitik in Zürich überhaupt. Ich aber entdeckte etwas anderes. Darin griff René Haubensak die Gartentstadt an, in der sich das schweizerische Gemüt, allerdings unter dem Titel Hüslischwyz, so bequem eingerichtet hatte. Sein Fazit: «1. Wir müssen unsere alten Städte retten. 2. Wir müssen aufhören, Gartenstädte zu bauen. 3. Wir müssen wieder Städte bauen.» Genau, sagte ich mir, dieser René Haubensak hat recht, die Agglomeration, die Zersiedlung müssen aufhören. Illustriert war sein Beitrag mit zwei Leitern. Die eine verkörperte «die geniale Erfindung» der Gartenstadt. Sie hatte nur zuunterst und zuoberst eine Sprosse. Daneben war die Leiter der Stadt abgebildet. Auf ihr konnte man ganz gemütlich emporsteigen, denn sie hatte, wie es sich gehört, Sprossen im Normalabstand. Conclusion? Es braucht das Dazwischen. Das ist es, was Haubensak mir beibrachte: Den Stadtraum. Das, was zwischen den Häusern ist, macht die Stadt, nicht die Gebäude. Ich war elektrisiert, da war einer, der die alte Stadt pries und einer der den Zwischenraum wieder einführte.

Ich besuchte ihn in seinem Büro im Haus «Baumwollhof», das er in der Stadelhofer Vorstadt renoviert hatte. Mit schwarze Fassade, was unzulässig war, Haubensak aber durchsetzte, er war ohnehin ein Farbenarchitekt. Im geräumigen Entrée gab es eine Tür, die mit «Vogelzimmer» angeschrieben war. Und siehe, dahinter waren in einem Zimmer so hundert Wellensittiche versammelt, die fröhlich herumflatterten. Oft ging ich am Haus vorüber, um die Vögel zwitschern zu hören.

Die Spielruine im Klingenhof leuchtete mir sofort ein. Kein Spielgerät aufstellen, keinen gentil Animateur beschäftigen, keine erzieherischen Machenschaften befehlen, nein, nur das bestehende Hofgebäude als Ruine stehen lassen, das war die intelligente Lösung. Die Kinder und die Jugendlichen haben das sofort verstanden. Der Gebrauch eines Gebäudes ist sein Sinn. Haubensak war der erste, den ich traf, der stehen liess, was die Normalarchitekten damals radibutz abrissen. Es waren nicht ökologische Gründe, sondern die Liebe zum Vorhandenen, amor rerum, die Dinge sind etwas wert, das Alte bewahrt Geschichte. Das war noch vor der Erklärung von Venedig von 1980.  

In die berühmten Häuser Linde, Buche und Zeder an der Zollikerstrasse habe ich mich verliebt. Nicht weil Haubensak diese Bäume stehen liess, sondern der Grundrisse wegen. Es ist ein Windmühlenkonzept. Vier Wohnungen je in einem Viertel eines Rechtecks beginnen ihr Dasein im unteren Geschoss. Im oberen Geschoss geht’s weiter, allerdings in der Diagonale. Die beiden Geschosse sind mit vier Treppen intern verbunden. Zuerst meint man, es gebe im Grundriss eine Drehung, doch ist’s ein Durchstich nach oben. Jede Wohnung ist zweigeschossig, jede besetzt gegenüberliegende Ecken des Rechtecks, jede hat einen Ausblick hangauf- und hangabwärts. In unseren grundrisssüchtigen Zeiten, wäre ein Studium dieses einen lohnend.

Das, als Einleitung zur Buchbesprechung. Es geht um: René Haubensak. Ein Architekt sui generis. Mit eigener Gattung, übersetzt das die Herausgeberin Inge Beckel. Wenn damit gemeint ist, dass er einzigartig war, früher hätte man geschrieben, ein Charakter, dann bin ich einverstanden. Er argumentierte um die Ecke, war irrational und trotzdem ein Tiefdenker. Leider konnte ich ihm nicht folgen. Doch unterdessen stellt sich heraus, das Haubensak ein Frondeur war. Einer, der sich gegen die herrschende Meinung auflehnte und trotzdem dazugehörte. Ein Kleinadliger, der sich gegen den König sträubt, aber trotzdem ein Monarchist ist. Sein König war die ausgelaugte Moderne. Haubensak war in Zürich einer der ersten, der das Thema Zwischenraum aufs Tapet brachte, einer der ersten, der der Tour dans le Parc nicht mehr traute, kurz einer der ersten, der Städtebau im alten Sinn betrieb: Der Bau von Zwischenräumen. Zu besichtigen in Neualtwil neben Wil SG und im Ankenbühl in Zumikon. Haubensak ist ein Verwandter Rolf Kellers, von Seldwyla zum Ankenbühl ist’s nicht weit.

Er war auch Mitglied der Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau (ZAS), die Oppositionsbewegung der technischen Intelligenz. Diese Leute haben als erste das Ypsilon bekämpft, sie haben die «Lawinenverbauung» vorgeschlagen, ein Umsteigen am Stadtrand, statt der Fahrt zum Parkplatz in der Tiefgarage. Sinnbild der Entwicklung, die die ZAS auslöste, ist der nun beschlossene Velotunnel unter dem Hauptbahnhof. Das auf Vorrat gebaute Stück Autobahn wird zur Velopiste. Sic transit gloria Ypsilosauri. Haubensak war einer der Verschworenen, die ihm an die Gurgel gingen. Wir müssen ihnen dankbar sein.

Und das Buch? Es hat mich erinnert. Ja, da war ich als mitbewegter Beobachter dabei. Stadelhofer Bahnhofstrasse, Ypsilon, Lawinenverbauung…es ist eine Fahrt durch die letzten fünfzig Jahre. Manchmal hätte ich mir die Pläne grösser gewünscht, doch habe ich ja eine Lupe. Die Texte sind eher haubensakig, gemeint ist, dass es um ihn alleine geht. Was um ihn herum geschah, muss man erahnen. Ich spüre die Absicht, Haubensak vor dem Vergessen zu retten, doch schon die Häuser Linde, Buche und Zeder allein werden das schaffen. Ich hätte  mir etwas mehr verehrende Respektlosigkeit gewünscht.

Und was war mit dem Versöhner? Der wurde mir erst im Kampf und die Verschlimmbesserung der Häuser an der Zollikerstrasse bewusst. Die Erben wollten sanieren, sprich so umbauen, wie es sich in einer so teuren Lage gehört. Haubensak wehrte sich, doch als es drauf ankam, da predigte er, es werde sich doch sicher alles einrenken, die Erben sicher zur Einsicht kommen, kurz er stand nicht auf die Hinterbeine, sondern schwenkte das Weihrauchfass. Ich glaube, Haubensak war konsenssüchtig, so ein Emil Landoltsches «sit lieb miteinander». Ein Frondeur mit Friedenspalme.

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