Lütjens Padmanabhan sind zitierfreudig: Die Schuppenhaut? Von Venturi inspiriert. Das Holzgitter? Soll wie Brunelleschi sein. Die Metallhüte? Hejduk, Berlin. Fotos: Hélène Binet

«Bisschen mehr wie Jazz»

Schuppenhaut, Holzgitter, Metallhut – Oliver Lütjens und Thomas Padmanabhan mischen für ein Wohnhaus in Zürich Referenzen und Neuerdachtes so humorvoll wie günstig.

Der schwarze Kunststeinpfeiler ist das Zentrum der Wohnung. Zwischen den Geschossdecken eingegossen trägt er zwar, doch die Architekten hätten ihn wohl auch sonst gebaut. Vermutlich hätten sie sich dabei auf Auguste Perret berufen, der die Raumgliederung stärker gewichtete als die Zurschaustellung des Tragwerks. Nun steht der Pfeiler jedenfalls dort, wo Küchendiele, Wohnraum und Loggia zusammenkommen, und hat mehrere Tausend Franken gekostet. An seinem Fuss verläuft ein Holzstreifen quer durch den grau gefliesten Boden bis zur Fussleiste. «Ein gebauter Schatten», sagt Oliver Lütjens, «scharf, oder?» Durchaus. Aber darf man sich solche Spielereien im preisgünstigen Wohnungsbau erlauben? Man muss.

Der schwarze Kunststeinpfeiler wirft einen hölzernen Schatten. «Scharf, oder?», finden die Architekten.

Mit Baukosten von rund 4500 Franken pro Quadratmeter Hauptnutzfläche ist das Wohnhaus im Zürcher Allenmoosquartier etwa so teuer wie ein üblicher Genossenschaftsbau. Trotzdem stehen die Pfeiler mit ihren Schatten nicht in einem Meer gebauter Belanglosigkeit, sondern umgeben von anderen, eigens erdachten Baudetails. Die kleinen Freuden konzentrieren sich an der Fassade und in den geteilten Räumen. Im Grossen ist das Haus diszipliniert: Der Baukörper ist kompakt. Die Tiefgarage sitzt weit oben im Garten, was Aushub spart. Die Wohnungsgrundrisse sind effizient.

Die zentralen Küchendielen sind Entrée und Esszimmer zugleich. Sie erschliessen direkt die Zimmer, die stets ähnlich gross und darum flexibel nutzbar sind – wie bei Altbauten. Lediglich vor den Bädern, die an der Fassade liegen und Tageslicht erhalten, gibt es kleine Verteilerräume. Die Materialisierung ist günstig bis billig, frei von Berührungsängsten: Graue Feinsteinzeugplatten liegen in Küche und Bad, Riemchenparkett in den Zimmern. Wo der weisse Wandputz aufhört, beginnt die rohe Betondecke. Kunstharz bedeckt die Stahlzargentüren, die Schränke der Küche und ihre Rückwand. Diese ist blass türkis, wie Kinderkaugummi. Bürospitzname: «Klostein».

Wo das Wasser fliesst, sind die gefliesten Streifen vertikal, sonst horizontal.

Im Grossen frei von Berührungsängsten: Stahlzargentüren, Feinsteinzeugplatten, Riemchenparkett, Kunstharzküche.

 

Kontext schaffen und Orte ordnen

Bevor wir uns zur Besichtigung im Oerliker Quartier treffen, schickt Oliver Lütjens einen Text von ihm und seinem Büropartner Thomas Padmanabhan. Seit zwölf Jahren führen die beiden ein gemeinsames Büro. Lange waren sie Assistenten an der ETH Zürich, zuletzt Gastprofessoren an der TU München und an der EPFL. Ihr Text heisst ‹Nach dem Kontext› und handelt von der Liebe zur Stadt und der Ernüchterung, stets dort zu bauen, wo sie sich auflöst. Ihre Schlussfolgerung: In den fragmentierten Agglomerationen und Vorstädten versagt der Kontext als Ausgangspunkt des Entwurfs. Darum muss jedes Haus seinen eigenen Kontext schaffen und jedes Einzelteil in seiner jeweiligen Baugeschichte ruhen. Der Grundriss soll Bezug nehmen zur Geschichte der Grundrisse, die Fassade zur Geschichte der Fassaden. Das Haus hat eine Bringschuld dem Ort gegenüber. Der Baukörper muss ihn ordnen, die Fassade ihn bereichern.

Reality Check: Die Bauherrin PWG, die Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen in der Stadt Zürich, verlangte im Wettbewerbsprogramm einen Teilersatz ihrer Bauten auf einer Parzelle an der viel befahrenen Wehntalerstrasse, wo Nachkriegssiedlungen, Punktbauten und Verdichtungsklumpen aufeinanderprallen. Ein Ersatzneubau in der zweiten, ruhigeren Bautiefe sollte sämtliche Ausnützungsreserven der Parzelle konsumieren. Stramm begleitet das Haus mit 21 Wohnungen nun den Waldmeisterweg. Spitzwinklig teilt es den dispersen Aussenraum im Rücken und fasst gegen Südwesten einen Gartenraum, die «Sonnenstube».

Spiegel, Streifen, Schrägen? Die Neunzigerjahre sind zurück!

 

Renaissance trifft auf Jazz und Achtziger-Pop

Rund um das Haus spannt sich eine Schuppenhaut aus grossformatigen, hellen Eternitplatten. Stand hier das Ricola-Lagerhaus in Laufen von Herzog & de Meuron Pate? «Nein, das Beach House von Robert Venturi», sagt Lütjens. «Das leichte und offene Federkleid war eine Offenbarung, nachdem wir bis kurz vor Wettbewerbsabgabe an einer Putzfassade gearbeitet hatten.» In ihrem Text theoretisieren die Architekten ausgiebig über das meisterhafte Gleichgewicht zwischen Flächigkeit und tektonischer Gliederung in Filippo Brunelleschis Renaissance-Architektur und den eigenen Versuch, die Eternit-Fassade mit einem Holzgitter unter Spannung zu setzen. Vor Ort erklärt Lütjens das schwungvoller: Die verschränkte Ecke? «Fernab des Standarddetails, erkämpft gegen Kriechtiere und Systemgarantie.» Der gestrichene Fries, der das Haus in zwei gleich grosse Schichten teilt? «Erlaubt es, auf einen Sockel zu verzichten. Der Horizont versetzt das Haus in einen Schwebezustand und balanciert die Fassaden. Im Erdgeschoss sind die Fenster am grössten, im ersten Obergeschoss am kleinsten, in den beiden Geschossen über dem Fries mittelgross. Das ist wie bei den Basketbällen in den halbvollen Wassertanks von Jeff Koons ‹50 / 50›-Serie. Das Verhältnis 1:1 ist absolut.» Und die vertikalen Lisenen? «Rhythmisieren die Fassaden, ohne die dahinter liegenden Wände abzubilden.» Gibt es ein Ordnungsprinzip? «Das Auge.» Das ist nun aber nicht sehr klassizistisch, oder? «Nein, bisschen mehr wie Jazz.»

Die Piano Stairs sind nur eine von vielen Spielereien im geteilten Raum und an der Fassade.

Das Vordach ist später Berliner Eighties Pop. Von John Hejduk inspiriert hatten Lütjens Padmanabhan den aus der Wand geklappten Metallhut schon bei einem kleinen Mehrfamilienhaus in Binningen gebaut. Nun zitieren sie sich unbekümmert selbst: einmal grösser über dem Haupteingang, einmal kleiner über dem Nebeneingang. Die Schräge des Dachs taucht beim Minisockel zur Strasse hin erneut auf, ebenso beim Attika-Dachrand, beim Klingelturm, als kleine Hütchen über den Regenrinnen, selbst beim Container-Abstellplatz. Formalismus pur.

In der Waschküche ein «Eisbär»: Tisch aus weissem, grob gestocktem Beton.

Auch in den gemeinsam genutzten Räumen jagt ein Detail das nächste. Hier die an Edwin Lutyens angelehnten Pianotreppen, deren schwarz-weisse Streifen sich weiter über Entrée und Gang ausbreiten und auf einen Schacht hinauf. Da die Spiegel an einem anderen Schacht neben einer schräg abgeschnittenen Fussmatte. Dort blaue und weisse Naturkautschukbahnen, die in Standardbreiten im Erdgeschoss liegen, in drei kleinen Trockenräumen und einer langen Waschküche zur Strasse hin. Die Waschmaschinen stehen unter einem weissen, grob gestockten Betontisch. Bürospitzname: «Eisbär». Die Türen sind rosa und prägnant beschriftet. «Wie bei Fussballtrikots: grosse Nummer, kleiner Name.»

 

Dem Preisdruck mit Freude begegnen

Federkleid und Jazz, Klostein und Eisbär, Trikot und Schatten, Streifen und Spitzen – das ist amüsant, bisweilen kurios. Enric Miralles sagte einst, er mache Architektur vorab, um sich zu vergnügen. Eine solche, in ihrem Gestaltungsdrang quasi postmoderne Haltung geht manch sprödem Geist wohl zu weit. Verkennt gebauter Spass die Bedeutung der Architektur? Darauf angesprochen schickt Lütjens später ein Zitat von Schopenhauer über den Unterschied zwischen Ironie und Humor. Bei der Ironie stecke ein Witz hinter vermeintlich Ernstem, beim Humor verberge sich tiefer Ernst hinter einem vordergründigen Witz. Er schreibt, es gehe ihnen nie um Ironie.

In der Tat ist das Haus am Waldmeisterweg keine gebaute Blödelei, aber Architektur für Architekten. Wild collagiert es Referenzen verschiedener Epochen und Neuerdachtes. Clever spart es Flächen und ist günstig gebaut. Im engen Kostenkorsett spielt es dadurch Ressourcen frei für lustvolle Momente. «Man muss den Preisdruck annehmen und trotzdem Architektur machen», sagt Lütjens, «mit simplen Mitteln die Lebensfreude reinbringen.» Was einfach klingt, gelingt selten, hier aber mit Bravour. Und die Neunziger sind definitiv zurück!

Attikageschoss

Regelgeschoss

Erdgeschoss

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 5/2019 der Zeitschrift Hochparterre.

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Kommentare

Andreas Konrad 03.06.2019 19:19
Am Ort selber die Details des Hauses anschauen : Mit welcher Akribie und Genauigkeit hier Materialien aufeinandertreffen , hat Vorbildcharakter . Das Ringen um jede Verbindung schimmert durch die Häuter und Strukturen durch . Die Details sind schön und unzürcherisch , sie sind ein gestreckter Mittelfinger an all die belanglosen , verkopften Kisten , die , von ernsten Architekten entworfen , ihrem baldigen Abriss harren . Leider ist die Gesamtanmutung des Hauses dann ein wenig trivial geraten . Da geht noch mehr Venturi !
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