Ein Raum ist auch ein Geruch, weiss der Architekt Antonio Gardoni. Das Multitalent folgte seiner Nase und gründete ein Parfümlabel. Fotos: Ottavio Tomasini

«Beim Entwerfen von Düften gibt es kein ‹Ctrl-Z›»

Der Architekt Antonio Gardoni baut Düfte. Er erklärt, was die Parfümerie und die Architektur verbindet und wie Gerüche die Raumwahrnehmung verstärken.

Das Multitalent Antonio Gardoni ist Co-Gründer von Studio Jump in London. Mit seinem Studio Antonio Gardoni ist der Architekt seit 2001 in Brescia und in Peking vertreten und bearbeitet Projekte aus Architektur, Szenografie und Produktdesign. In der Lombardei führt er mit einem Geigenbauer die Officina da Camera als Galerie und Musikstudio. 2002 erschien sein Buch ‹Food by Design›. Ende der Nullerjahre fand Gardoni zum Parfum und gründete mit Bogue Profumo sein Label für Arts-and-Crafts-Düfte, die in Zürich in der Parfümerie Spitzenhaus erhältlich sind.

 

Wie kamen Sie als Architekt zur Parfümerie?

Antonio Gardoni: Aus Zufall – und aufgrund eines tiefen Interesses an der Natur. Ich schneide seit geraumer Zeit Bonsai. Irgendwann faszinierte mich der Geruch der geschnittenen Zweige und kleinen Blätter.

Weshalb Bonsai?

In der Kunst des Bonsai beschäftigt man sich mit der Repräsentation von Natur innerhalb der Natur. Man kann die Form, die Entwicklung, das Schicksal dieses kleinen Stücks Vegetation kontrollieren. Das verleiht einem ein machtvolles Gefühl. Zugleich verbindet man sich tiefer mit der Natur, denn der Massstab des Bonsai bezieht sich auf unsere menschliche Realität. Ich kümmerte mich also um meine Bonsais, sprach enthusiastisch über die unterschiedlichen Gerüche, bis mir ein Freund vorschlug, ich solle die Abschnitte doch nicht wegwerfen, und mir ein Destilliergerät zum Geburstag schenkte.

Was wollten Sie mit dem Destilliergerät herausfinden?

Den unterschiedlichen Geruch von Pflanzen. Mich faszinierte der einfache und beruhigend technische Prozess, der nur Dampf und Pflanzen benötigt. Ich wollte so viele Gerüche der Natur wie nur möglich extrahieren. Das war mein Lernprozess. Ich erkannte Unterschiede in den Gerüchen von verschiedenen Pflanzenteilen oder von denselben Pflanzen, die ich in den vier Jahreszeiten oder an diversen Plätzen sammelte. Dieser subtile, ausführliche Prozess lehrte mich, die unendlichen Möglichkeiten des Spiels mit Gerüchen zu erkennen.

Wann starteten Sie damit, Gerüche zu kombinieren?

Um 2008, zwei, drei Jahre nachdem ich nichts anders tat, als mit diesem Extraktionsprozess zu experimentieren. Ich begann ohne jede konkrete Absicht, daraus ein Projekt zu machen oder gar ein Geschäft darauf aufzubauen. Mich interessierte es einfach, Essenzen zu kombinieren, und ich wählte dafür einen technischen Ansatz. Wie Mathematik, aber das Resultat bot mir mehr als die Summe seiner Teile. Da war noch etwas anderes. Ich erkannte, dass Parfümerie einen viel wagemutigeren Ansatz erforderte.

War das der Punkt, an dem der Mathematiker zu einem Komponisten wurde?

Bestimmt, auch wenn ich glaube, dass Mathematiker in Tat und Wahrheit Komponisten sind und umgekehrt. Alle gestalterischen Disziplinen umfassen diese beiden Seiten: den berechenbaren, reproduzierbaren Anteil und das Experiment. Trotzdem musste ich mich rechtfertigen, sobald ich als Architekt die Disziplin wechselte und mich zur Parfümerie bekannt hatte. Denn die Moderne lehrte uns die Spezialisierung.

Was verbindet die Architektur mit der Parfümerie?

Ehrlich gesagt, haben beide Praktiken nur wenig gemeinsam – ausser der Tatsache, dass ich meine Gedanken in beiden Disziplinen gleich begeistert ausdrücke.

Welches Wissen brachten Sie als Architekt in die Welt der Parfüms mit?

Ich hatte gelernt, wie man etwas entwirft und entwickelt. Das gab mir Sicherheit. Ausserdem gibt es in beiden Disziplinen geteilte Begriffe wie Harmonie, Rhythmus, Mass und Massstab, Repräsentation oder Struktur. Architektur dient mir als Referenz, um meine Erfahrung im Duftstofflabor zu beschreiben und zu teilen.

Ist architektonisches Entwerfen vergleichbar mit dem Komponieren eines Parfüms?

Ohne fundierte Ausbildung in der Parfümerie verfüge ich über keinen Standardprozess. Stattdessen experimentiere ich. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten in meinem generellen Ansatz, wenn ich entwerfe oder Parfüms komponiere. Entweder interessiert mich ein Material oder ein Geruch, und ich will herausfinden, wie ich das Wesentliche ausschöpfen kann, um damit etwas auszudrücken. Oder ich beginne mit einer konzeptuellen Idee, einem Problem, das ich lösen will. Der grösste Unterschied bei beiden Prozessen ist die Tatsache, dass es beim Komponieren von Düften kein Zurück gibt. Es gibt kein ‹Ctrl-Z›.

Das ist ein wesentlicher Unterschied zu iterativen Gestaltungsprozessen. Was tun Sie stattdessen?

Füge ich 0,02 Prozent eines Rohmaterials zu einer Formel, die rund 15 Inhaltsstoffe hat, kann ich das nicht ungeschehen machen, falls dieser Zusatz nicht funktioniert. Da beginnt man von vorne. Manchmal verliere ich mich im Prozess, doch ab und zu bringt mir ein solches Missgeschick eine Welt von neuen Ideen.

Arbeiten Sie deshalb in experimentellen Serien?

Arbeite ich an einem Parfüm oder an einem Designprojekt, starte ich nie mit einer, sondern mit sechs oder mehr skizzierten Ideen. Dann entwickle ich parallel jede Skizze weiter. Ich arbeite nie nur an einer Formel. Gewisse Schritte kann man überspringen. So wie man nicht jedes Mal ganz von vorne anfangen muss, entwirft man zum Beispiel einen Stuhl: Sie kennen beim zweiten, dritten Mal bereits die ergonomischen, funktionalen oder skulpturalen Erfordernisse und die wichtigsten Masse. Manchmal beginne ich ein Projekt, um mein bisheriges Wissen herauszufordern: Also denke ich nicht an einen Stuhl, wenn ich einen entwerfen will.

Wie bewahren Sie Ihre Erkenntnisse als Parfümeur auf? In der Nase?

In meinen Notizbüchern. Ich skizziere meine Parfümideen am liebsten so, wie ich die Effekte einer Perspektive erfasse. Um einen Duft zu entwickeln, arbeite ich mit Mini-Formulas, die ich später miteinander kombiniere. Das ist nicht so unterschiedlich vom Entwerfen, egal, ob es um ein Haus, einen Stuhl oder um ein Fahrrad geht. Man kennt die Funktionen eines solchen Objekts und weiss, was es als Ganzes vermitteln soll. Natürlich kann ich viel Zeit damit verbringen, das Rad oder ein anderes Detail zu entwerfen, aber am Ende wird es zu einem Rahmen gefügt, der Rahmen wird mit Bremsen und so weiter ergänzt. In der Parfümerie arbeiten wir mit Duftfamilien, zum Beispiel mit holzigen Noten. Sie bestehen aus einzelnen Bausteinen. Damit baue ich komplexe Strukturen.

Ist die Parfümerie, wie die Architektur, eine Raumkunst? Oder ziehen Sie es vor, Parfüms als Sprache zu beschreiben?

Architektur und Parfümerie verbinden sich in der Raumwahrnehmung. Betreten wir einen Raum, nehmen wir immer auch einen Geruch wahr. Nicht immer bewusst, aber trotzdem – der Kohlgeruch macht etwa die Küche aus, der Weihrauch die Kirche, Bleistifte und Rauch mein Büro. Ebenso riechen Baumaterialien: der nasse Beton, der Stahl, das frisch geschlagene Holz, der Leim oder die Silikonfuge. Diese Gerüche verändern sich und verbinden sich mit dem Geruch von anderen Bauelementen und generieren tiefliegende Gedächtnisinhalte, die wir zuweilen fetischisieren.

Wie verstärken Gerüche die Raumwahrnehmung?

Sie fügen weitere Gefühlsebenen hinzu, die ich als Bausteine für künftige Erinnerungen nutzen kann. Geruch verstärkt die Wahrnehmungserfahrung, die wir in Räumen immer machen: Wie beeinflusst ein Raum unsere physische Präsenz, weshalb fühlen wir uns in einer gebauten Umgebung manchmal kleiner oder grösser, als wir sind, wärmer oder kühler, beengt und bedrückt oder befreit, uns zu bewegen? Weshalb ist Architektur so machtvoll, etwas über ihre Gebrauchsfunktion hinaus zu vermitteln? Solche Fragen brachten mich zur Architektur. Architektur verändert unsere Wahrnehmung. Zum Guten oder zum Schlechten. Genauso, wenn wir etwas riechen. Deshalb interessiert mich die Parfümerie.

Weshalb vernachlässigt die Kritik diese schwierig zu benennenden Aspekte – in der Architektur genauso wie in der Parfümerie?

Weil es niemanden kümmert. Dabei müssen wir das nicht einmal als heillos romantischen, sensitiven Ansatz diskreditieren. Wir können architektonisch einen Rhythmus reproduzieren, Kompression simulieren oder mit der Massstäblichkeit spielen. Dafür gibt es Regeln, das hat nichts mit Gefühlsduselei zu tun. Dasselbe gilt für die Parfümerie. Indem ich über Gerüche nachdachte, realisierte ich, dass es etwas Tieferliegendes, etwas Metaphyisches gibt. Gerüche beeinflussen, wie wir die Realität wahrnehmen. Räume und Gerüche können magisch sein. Ihre Wahrnehmung entzieht sich unserer Kontrolle. Sie haben etwas Grossartiges, Machtvolles – selbst wenn wir den Effekt konstruieren und rekonstruieren können.

Kann die Welt der Parfüms modernisiert werden, um Düfte autonomer zu machen?

Nur wenn wir die Parfümerie als Teil eines zeitgemässen Prozesses sehen, ohne sie an eine überkommene Vergangenheit zu knüpfen. Als Disziplin hat sich die Parfümerie seit den Fünfzigerjahren nicht weiterentwickelt. Sie basiert immer noch auf der Idee des Flacons und des Verpackungsdesigns statt auf der Macht des Geruchs.

Und auf dem Marketing …

… das die Geschichte des Supermachos erzählt, der in die blauen Wellen taucht und peinliche Slips trägt. Oder die der blühenden Landschaft, der sexuell verfügbaren Frau. Parfüms werden so auf eine Ware reduziert, die nicht aufgrund von Funktionalitäten ausgewählt werden soll wie etwa Turnschuhe oder Haushaltsgeräte, sondern wegen solcher narrativer Stereotypen. Parfüms stecken immer noch in einer altmodischen Welt. Das verdienen sie nicht.

Sollte diese Kritik nicht von innen heraus formuliert werden?

Ja, bestimmt, und wir sollten diese stereotype Kommunikation rund um Parfüms stets herausfordern. Sie werden nie eine Beschreibung meiner Parfüms finden, nicht deshalb, weil ich keine Angaben zu den Inhaltsstoffen machen will, sondern weil ich glaube, dass Parfüms erfahren werden müssen – ohne zu versuchen, eine persönliche Erfahrung an eine Pressemitteilung anzupassen. Wir können ein Gemälde von Caravaggio kritisieren, weil wir uns auf dessen visuelle Repräsentation beziehen können. Bilder mögen im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit zwar eine gewisse Aura verloren haben, um Walter Benjamin zu bemühen, aber wir können dadurch unser mentales Archiv viel schneller vergrössern als davor. Demgegenüber ist der kritische Diskurs über Parfüms schwierig, weil wir sie nicht medial teilen können. Stellen Sie sich vor, das wäre möglich – eine Revolution! Beziehe ich mich auf die Farbe Rot, mögen Sie zwar an einen bestimmten Farbton denken. Falls nötig kann ich mit der Pantone-Nummer klären, was ich meine. Sage ich ‹Rose Absolue›, was eine technische Definition eines aus Pflanzen gewonnenen Duftstoffs ist, rufen Sie immer noch ein unterschiedliches Dufterlebnis ab, das nicht objektivierbar ist.

Ist das der Grund, weshalb Parfüms in der Hierarchie der Künste tiefer stehen als Malerei oder Architektur?

Das, und die Tatsache, dass Parfüms nur als Waren gelten, oder höchstens als Dekoration. Sie sind ein kulturelles Extra, ein Werkzeug, um Schönheit herzustellen. Die Erfahrung, das beste ‹Rose Absolue› des Universums zu riechen, ist nicht lebensnotwendig. Anders als Architektur, die uns vor dem Regen schützt. Mein Traum ist es, ein wunderbares, zeitgemässes Parfüm unter einem grossartigen Dach zu riechen.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 5/2019 der Zeitschrift Hochparterre.

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