Bewegung und warme Luft blähen eine leichte Folie auf.

Calatravas Roulade

Die Studierenden der ArchitekturWerkstatt beschäftigten sich mit der Bedeutung von Gewand und Mode in der Architektur. Jan Fischer berichtet im Campus, wie ihn Santiago Calatravas Notrufzentrale inspirierte.

Was können Architekt*innen in der Beschäftigung mit dem Gewand und Mode – mit Kleidung und ihrer Vielfalt oder Einfalt – lernen? In einer Projektwoche näherten sich die Studierenden der ArchitekturWerkstatt St. Gallen dieser Frage an. Quer durch alle Semester entwickelten Bachelor- und Masterstudierende ein Gewand. Das Wort an sich ist spannend: eine «Geh-Wand» – das Haus, das ich um mich trage. So ähnlich sahen die Ergebnisse auch aus – zum Teil wie Kleider, zum Teil wie Zelte, oder irgendetwas dazwischen.

Unser Team startete mit der Besichtigung der kantonalen Notrufzentrale von Santiago Calatrava in St.Gallen als Referenz. Nach mehreren Modellversuchen wurde aus offensichtlichen Analogien eine abstrakte Interpretation. Wir nannten sie spassig ‹Calatravas Roulade›. Und sie funktioniert! Bewegung und warme Luft blähen eine leichte Folie auf, die zuvor schlaff um unsere Körper hängt. Ein zunächst unsichtbares Fadengespinnst gibt dem Gewand Struktur – umgekehrt wie beim gebauten Vorbild, nicht als tragendes Skelett, sondern als haltendes Netz. Die Vielfalt der am letzten Projekttag im Bahnhof St.Gallen präsentierten Ergebnisse war spannend: Fassaden drehten sich und schwangen wie Kettenkarusselle in die Höhe, schuppige Schindelkleider und Laubwesen schritten durch die Galerie der Bahnhofshalle. Die Schlusspräsentation war eine Performance, in der wir öffentlich zur Schau trugen, was wir die Woche über erdacht, entwickelt und gebaut haben.


Die Notrufzentrale von Sanitago Calatrava diente als Inspiration.

Präsentation des Projekts im Bahnhof St.Gallen

Auch Häuser tragen zur Schau. Kathedralen, Schlösser, die Erker in der St. Galler Altstadt und die Gründerzeithäuser hinter dem Bahnhof, letztere in uniformen Zeilen und doch individuell ornamentiert. Unter anderem darin liegt wohl ihr reizvoller und stimmiger Charakter begründet. Dem Stadtbild tut es gut, dass Architektur und Stadtplanung um 1900 der Mode der Zeit folgten und so Vielfalt in der Einheit schufen. In neuerer Zeit trägt manch gute Konstruktion die Schönheit ihrer Struktur zur Schau, was zeitlos erscheint – wie bei Calatrava. «La mode passe, le style reste», wie Yves Saint Laurent sagte. Oder zur Architektur hin: La décoration passe, la construction reste? Kleider machen Leute und Häuser machen Städte. Und da Gebäude langlebiger sind als Kleider, tragen Architekturschaffende eine grössere Verantwortung als Modeschöpfer. Auch in der Architektur gibt es Modezyklen. Wir können entscheiden, ob wir ihnen nachlaufen, an ihnen mitstricken oder radikal auf die Situation eingehen und das bestmögliche Haus für diesen Ort und diese Menschen bauen. Wenn wir Architektur wirklich gut und gründlich machen, ist alles Haute-Couture: Einzelstücke, die dienen – den Nutzenden und den Passanten, die die nächsten hundert Jahre an ihnen vorbeispazieren, getragen von einer Stadtplanung, die den Zeitgeist spürt, ein Stück weit austariert und sich um die grösseren Strukturen kümmert.


Die Schlusspräsentation als Performance

Schindelkleider und Laubwesen in der Galerie der Bahnhofshalle.

In der Haustechnik-Vorlesung der folgenden Studienwoche klärte uns der Dozent auf, dass Heizungen meist überdimensioniert sind. Sie sind auf den Peak des kältesten Tages ausgerichtet. Wir könnten aber auch einen Pullover anziehen, womit wir wieder bei den Gewändern und dem Zusammenspiel von Körper und Architektur wären. Auch dieser Gedanke ist anregend: Kleidung und Architektur als zusammenhängendes System begreifen. Die Schutzfunktion zwischen ‹zweiter Haut›, der Kleidung, und ‹dritter Haut› des Gebäudes variieren, zum Beispiel durch die Schaffung von Zellen und kleineren Strukturen innerhalb von Räumen, die effizient zu klimatisieren sind, inklusive wirksamer Nutzung der Bio-Heizung unserer Körper. Ich denke gerade an heimelige Bettnischen oder geblähte Hohlrouladen ;-) in einer hallenartigen Loftwohnung.

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