Der Kino- und Konzertsaal ist das Herz des Zentrums für zeitgenössische Kunst im Arsenal im Kreml von Nischni Nowgorod.

Vasarifest: Drei Tage an der Wolga

Mitte September hat in Nischni Nowgorod das dritte Vasari-Festival zu Texten über Kunst stattgefunden. Unter dem Thema «Architektur und Text» war das Festival auch Geburtstagsfest von Ewgenij Ass, Architekt, Künstler und Professor.

Mitte September hat im russischen Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau, das dritte Vasari-Festival zu Texten über Kunst stattgefunden. Es ist benannt nach dem Italiener Giorgio Vasari (1511–1574), der als einer der ersten Kunsthistoriker gilt. Ort der dreitägigen Veranstaltung war das Arsenal, der Sitz des staatlichen Zentrums für zeitgenössische Kunst (GZSI, Filiale Wolga). Die diesjährige Ausgabe des Festivals war dem Thema «Architektur und Text» gewidmet. Kurator war der Moskauer Architekt, Architekturprofessor und Künstler Ewgenij (Shenja) Ass, der zusammen mit den Leuten des Kunstzentrums das historische Gemäuer des Arsenals in langjähriger Arbeit in ein Kulturzentrum umgebaut hat.

Ass gab jedem der drei Tage ein Thema: Der Freitag war als Tag des Architekten dem Text in der Architektur gewidmet, der Samstag thematisierte als Tag des Kritikers den Text über die Architektur, und am Sonntag, dem Tag des Bürgers, stand der Text um die Architektur im Fokus. Das Programm umfasste Vorträge, Podiumsdiskussionen, Filme und Konzerte, und es war begleitet von einem Kinderprogramm und einem Büchermarkt.

Das Vasarifest war auch ein Shenjafest

Ewgenij Ass hat das Vasarifestival jedoch nicht bloss kuratiert, sondern er war der Mittelpunkt, um den sich die ganze Veranstaltung dezent drehte. Dieses Jahr war das Vasarifest also auch ein Shenjafest. Anlass dafür war Ass’ siebzigster Geburtstag. Und so reisten aus Moskau zwei Dutzend seiner Freunde nach Nischnij, wie die Stadt umgangssprachlich genannt wird, um während der drei Tage den Geburtstag einer der herausragendsten Figuren der russischen Architektur- und Kulturszene zu feiern.

Wie bei vielen Architekten in der Sowjetunion üblich, trat auch der 1946 in Moskau geborene Ass in die Fussstapfen seines Vaters Wiktor Ass. Sohn Ewgenij Wiktorowitsch suchte seinen Weg ausserhalb der alles dominierenden staatlichen Strukturen und schaute bald – zunächst aus der Ferne, dann vor Ort – über die Grenzen der UdSSR hinaus. So knüpfte er ein vielfältiges Beziehungsnetz, das ausgehend von Moskau die ganze Welt umspannt. Darin spielen die Schweiz und die präzise, reduzierte Schweizer Architektur und ihre Protagonisten eine besondere Rolle. Mit seiner «Gruppe für experimentelles Projektieren» an der staatlichen Architekturschule MArchI besuchte Ass Anfang der Neunzigerjahre, noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Schweiz. Im Austausch fuhr eine Studentengruppe des damaligen Technikums Winterthur nach Moskau ans MArchI. Vor fünf Jahren, in einem Alter, in dem die Professoren pensioniert werden, gründete Ewgenij Ass seine eigene Schule MARCH.

Ehre und Freude

In der «Gruppe für experimentelles Projektieren» (für die Russen damals ein Novum, für mich normaler, mir von der ETH vertrauter Architekturunterricht) lernte ich 1992 Ewgenij Ass und seine Studierenden kennen und half einem seiner Diplomanden als «Knecht» beim Diplom. Über die Jahre hat der Kontakt nie abgerissen, und so war es für mich eine Ehre und eine Freude, als ich von Shenja die Einladung erhielt, am Vasarifest in Nischni Nowgorod einen Vortrag zu halten. «Architektur als Ereignis. Schweizer Chronik» lautete der Titel (das Video ist in Bearbeitung, der Link folgt). Für mich war das eine doppelte Premiere: Erstmals war ich in Nischni, erstmals hielt ich einen Vortrag auf Russisch.

Die Höhepunkte des Vasarifests waren jeweils die Abendveranstaltungen. Am Samstag präsentierte Kiril Ass – der Familientradition folgend ebenfalls Architekt und Architekturkritiker – die Ausstellung «Izlutschenije» (Strahlungen) mit Werken von Freunden seines Vaters, darunter ein Blatt von Peter Märkli. Anschliessend lauschte das Publikum dem «Einfachen Konzert für Geige mit Architekt». Umrahmt von Musik trug Ewgenij Ass Texte zum Thema Einfachheit vor. Am Samstagabend fand die «Show der Kritiker» statt, die sich um die Sprache in der Architektur drehte (und der ich als nicht-Russischsprachiger nur schwer folgen konnte). Den Abschluss des Vasarifests setzte am Sonntag das Konzert «Minimalismus 4x4» des Moskauer Ensembles für zeitgenössische Musik (MASM).

Den Austausch pflegen!

Das Festival war hervorragend organisiert (ein grosser Dank an die Verantwortlichen, in meinen Belangen an Aleksander Kuridzen), und es bot einen bunten Strauss hochwertiger Veranstaltungen. Die Organisatoren, die Protagonisten und das Publikum des Vasarifest zeigten, dass längst nicht alle den Hurrapatriotismus teilen, den das offizielle Russland in die Welt hinausposaunt. Allerdings – und dessen waren sich alle bewusst – befindet man sich damit zurzeit auf einer ziemlich einsamen Insel in dem grossen Land. Umso wichtiger ist es, den kulturellen Austausch weiterzuführen und die vielfältigen Beziehungen zu pflegen.


Bildergalerie: Ein Rundgang durch Nischni Nowgorod (nur für Abonnenten)

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