Unter Strom

Politikerinnen und Hauseigentümer verlangen den sofortigen solaren Ausbau in den Städten. Das setzt Stadtplanungen und Städtebau unter Druck. Ein Werkstattbericht.

Fotos: Cortis&Sonderegger
Mit Unterstützung von EnergieSchweiz

Politikerinnen und Hauseigentümer verlangen den sofortigen solaren Ausbau in den Städten. Das setzt Stadtplanungen und Städtebau unter Druck. Ein Werkstattbericht.

Die Stadt als solares Kraftwerk? Noch weiss niemand, wie sie aussehen wird. Die Fotografen Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger haben schon mal angefangen, an ihr zu basteln mit ihren augenzwinkernden Collagen für das Themenheft «Solaris #7».


Robert Scherzinger leitet das Amt für Hochbau und Stadtplanung in Frauenfeld. In diesen Monaten bekommt er mitunter einen ätzenden Vorwurf zu hören. Altmodisch sei diese Stadtverwaltung, rufen Hauseigentümer aus, eine Bremse, wo man doch etwas Gutes wolle: sofort eine Solaranlage! Scherzinger bleibt einigermassen gefasst, doch seine Lage ist ungemütlich. Das hat mit einer für die Sache der Solarenergie an sich guten Ausgangslage zu tun. Frauenfeld verfügt als eine der wenigen Schweizer Städte über eine spezifische Solarstrategie. Die Energieversorgerin Thurplus hat ihre Hausaufgaben gemacht: Sie hat den Auftrag, die Energiewende mitvoranzutreiben, und im Rahmen der quantitativ ausgelegten ‹PV-Strategie 2022–2027› das Potenzial der Frauenfelder Dächer kalkuliert. Ende 2020 waren in der Thurgauer Kantonshauptstadt 332 Photovoltaik-Anlagen in Betrieb, die jährlich gut 11 Gigawattstunden (GWh) Strom liefern – 7,7 Prozent des gesamten Stromverbrauchs Frauenfelds von 150 GWh. Das gesamte theoretische Produktionspotenzial von Frauenfelds Dächern beziffert Thurplus dagegen auf 100 GWh pro Jahr. Um das zu erreichen, investiert Thurplus bis 2027 9,35 Millionen Franken. Das Unternehmen bietet Solarstrom an und mit ‹SolarInvest› zudem eine Möglichkeit, eine Photovoltaik-Anlage fern des eigenen Dachs mitzufinanzieren, die Thurplus dann realisiert und mit Herkunftsnachweisen sowie Zinsen vergütet.


Neinsagen fällt schwer

Ein Stadtplan in der Strategie zeigt das «theoretische PV-Potenzial»: Praktisch die ganze Dachlandschaft ist grün eingefärbt. «Machbarkeit mit den entsprechenden Stellen koordinieren», heisst es unterhalb der quantitativen Ziele etwas lapidar. Das ist die Aufgabe von Robert Scherzinger und seinem Team. Anhand erteilter Baubewilligungen prüfen sie im Austausch mit Thurplus, ob das theoretisch errechnete Potenzial auch realisierbar ist: Steht das Dach unter Ortsbildschutz? Wie viel von der Dachfläche ist tatsächlich verfügbar und geeignet? Trägt die Statik eine Photovoltaik-Anlage? Ist die Entwässerung noch gewährleistet, wenn ein Teil des Dachsubstrats für die Anlage abgetragen wird? Es sind die konkreten Fragen, die beschäftigen. «Natürlich prüfen wir die Standorte auch baukulturell», sagt Stadtplaner Scherzinger. Neulich wollte jemand sein Haus komplett mit schwarzen Photovoltaik-Modulen einkleiden. Das Gebäude ist Teil eines Gestaltungsplans. Was bedeutet das – architektonisch für das Haus und städtebaulich für das Strassenbild und das Areal? Wollen wir schwarze Quartiere? Bald dürften zudem mehr Plug- & Play-Photovoltaik-Anlagen von Balkonen und Gartenmauern hängen. Wie verändert sich das Strassenbild, wenn Photovoltaik zusehends von den Dächern an die Fassaden hinuntergleitet? In welchen Quartieren und Arealen wird das zur Norm, und was bedeutet es für die Stimmung in den Strassen? Überhaupt: Was macht der solare Schub mit dem Stadtkörper von Frauenfeld? Wie sieht die Stadt 2030, 2040, 2050 aus? Und was unterscheidet dieses zukünftige Frauenfeld vom solaren Basel, Freiburg oder Chur? Fragen, die auch Robert Scherzinger interessieren, doch «ein solches ‹Big Picture› haben wir noch nicht entworfen», sagt er nachdenklich. Dazu fehlt seinem Team die Zeit. Nächstens werde die Stadt den kommunalen Richtplan überarbeiten und den Bereich Photovoltaik einfügen. Dabei wolle er gestalterische und städtebauliche Themen möglichst hoch gewichten. Denn ob nun mit einem Mal die Energieziele alle anderen städtischen Ziele übersteuern sollen, benötige eine politische Klärung. «Es ist höchste Zeit für den solaren Ausbau – aber ich möchte keine städtebaulichen Fehler machen, die wir nachher bereuen.» Grundsätzlich sollen zwar alle dürfen – aber nicht alle machen, wie sie wollen. «Manchmal sagen wir auch Nein zu einem Projekt», sagt Robert Scherzinger, und dieses Nein fällt ihm nicht leicht. Frauenfeld steht hinter dem Ausbau der Solarenergie und fördert ihn nach Kräften. Scherzinger und sein Team verantworten, dass Solaranlagen das Baugesetz einhalten und in das Geflecht aller stadtplanerischen Ziele wie die bauliche Verdichtung oder Massnahmen gegen Stadthitze eingewoben sind. Das Ziel von Thurplus dagegen ist klar und einfach: Die Photovoltaik-Strategie umsetzen mit Anlagen, die sich rechnen.

Stromproduktion in der Schweiz im Jahr 2021 (in TWh)

Stromproduktion – vorläufiges Ziel für 2035 (TWh)


Viel Druck und wenig Städtebau

Mit seinem Respekt vor städtebaulichen Fehlern spricht Robert Scherzinger etlichen Kolleginnen und Kollegen in den Stadtplanungsämtern aus dem Herzen. Der Druck auf deren Arbeit nimmt zu: Die Zahl der Meldeverfahren für Photovoltaik-Anlagen steigt, Stadtparlamente fordern einen erheblichen Ausbau, und in den Stadtregierungszimmern hat der politische Selbsterhaltungstrieb den Einstrahlungswinkel auf die Solarenergie geöffnet. Einige Kantone haben in ihren Energiegesetzen die Grundlage für eine Solarpflicht bei Neubauten und Sanierungen geschaffen, wenn auch nicht überall mit der gleichen Entschlossenheit. Viele Städte setzen sich ambitionierte Energie- und Klimaziele. Der Schweizerische Städteverband teilte 2022 mehrfach mit, wie dringend der solare Ausbau für die Städte sei. «In den vergangenen Monaten beschäftigte den Städteverband vor allem die Sicherstellung der Energieversorgung», bestätigt Véronique Bittner, Vizedirektorin des Verbands und zuständig für das Energie-Dossier. «In einer längerfristigen Perspektive gilt der Austausch primär den Anreiz- und Fördersystemen für die Solarenergie.» Eine Debatte darüber, wie die urbane Solaroffensive städtebaulich zu lenken sei, finde im Verband noch nicht statt.

So scheint nun also die Sonne über der Solarenergie, während der Städtebau noch in ihrem Schatten steht. Denn mit dem politischen Druck nimmt auch die Schwierigkeit zu, eine gute Gestaltung zu verlangen und durchzusetzen. Von der Ausbau-Forderung ist es nur ein Schritt zum K.o.-Argument gegen jegliche Konzepte, die den Ausbau qualitativ absichern wollen: «Nicht noch mehr Einschränkungen, wir müssen vorwärtsmachen!»

PV-Produktion und -Ausbauziele – fünf Städte im Vergleich.



Fehlende Bilder

Wie Frauenfeld hat auch die Stadt Zürich eine spezifische Photovoltaik-Strategie ausgearbeitet. War die erste von 2017 noch zahnlos, ist die Nachfolgerin von 2021 griffiger. Dahinter steht eine Arbeitsgruppe, in der acht Dienstabteilungen vertreten sind. Federführend waren die Energiebeauftragte Silvia Banfi, Heike Eichler sowie Sven Allemann vom Energieversorger EWZ. Doch scheint man die Strategie bereits wieder anpassen zu wollen: «Aufgrund der starken Dynamik im Photovoltaik-Bereich soll die Strategie 2023 aktualisiert werden», teilt Banfi mit.

Im geltenden Papier stecken 13 Grundsätze den Handlungsbedarf in der Solarenergie ab – von den quantitativen bis zu den qualitativen Anforderungen. Ganze 500 GWh jährlich könnten Zürichs Dächer hergeben – zurzeit beträgt die Photovoltaik-Produktion erst 39 GWh pro Jahr. Bis 2030 will die Stadt sie auf 120 GWh jährlich steigern. Zum Potenzial zählte man nur die geeigneten Dächer. «Fassaden können in vielen Stadtgebieten wegen des Schattenwurfs weniger Energie liefern. Wir sollten deshalb vorrangig die Dächer nutzen», ist Silvia Banfi überzeugt. Mit den eigenen Gebäuden will die Stadt ab 2030 jährlich 20 GWh erzeugen. Das ist zwar fünfmal mehr als heute, reicht aber längst nicht aus, um den Verbrauch der Stadtverwaltung von 170 GWh pro Jahr zu decken.

Regelmässig kommen Vorstösse und Ausbau-Forderungen aus dem Stadtparlament. Der Kanton hat mächtig vorgelegt. In Bauzonen genügt seit Januar eine Meldung statt einer Baubewilligung – nicht nur für Anlagen auf Dächern, sondern auch an Fassaden. Davon ausgenommen sind lediglich die Kernzonen. Damit hat der Kanton eine neue Phase eingeläutet. Testet man Qualitätskriterien im Städtebau üblicherweise anhand von Pilotprojekten und ‹Best Practice› und verankert sie später gesetzlich, stehen diese Prozesse nun kopf.

2020 ist die städtische ‹Fachplanung Hitzeminderung› erschienen, gespickt mit Vorschlägen für Stadtvegetation aller Art, gesamtstädtischen Hitzekarten sowie Skizzen von stärker begrünten Strassenräumen. Die Photovoltaik-Strategie dagegen enthält kein einziges Bild und noch nicht einmal einen Stadtplan. Die Zukunftsbilder für die urbane Solaroffensive fehlen noch – nicht nur in Frauenfeld und in Zürich.


 

Drei Städte – noch wenige gestalterische Anforderungen

An welche städtebaulichen und architektonischen Qualitäten der Ausbau der Photovoltaik geknüpft werden soll, thematisiert bislang kaum eine Stadt, wie drei weitere Beispiele zeigen.

Lausanne
Der ‹Plan climat› verlangt bis 2030 netto null Treibhausgasemissionen in der Mobilität sowie netto null für alle direkten Emissionen bis spätestens 2050. Diese Ziele will die Stadt mit 170 Massnahmen erreichen, etwa mit der Erleichterung der Installation von Photovoltaik-Anlagen, wobei Denkmal- und Ortsbildschutz sowie ästhetische Fragen berücksichtigt werden sollen. Das städtische Energieunternehmen Si-Ren will bis 2030 eine Photovoltaik-Leistung von 30 Megawatt bzw. bis 2050 von 100 Megawatt an öffentlichen und privaten Gebäuden installieren. Dazu sind Anreize für private Bauherrschaften nötig, die Lausanne im kommunalen Richtplan und im Flächennutzungsplan konkretisieren will.

Lugano
Der städtische Energieplan ist noch nicht offiziell genehmigt. Studien der Stadtverwaltung und der Luganeser Industrieunternehmen (AIL) haben das Produktionspotenzial ausgelotet. Die AIL sollen die öffentlichen Gebäude mit Photovoltaik ausrüsten und auch auf Infrastrukturen ohne Eigenverbrauch Anlagen bauen, etwa auf Lärmschutzwänden. Man strebt eine Baupflicht für Anlagen auf Dächern und gebietsweise Photovoltaik-Fassaden im Nutzungsplan an, eine Erleichterung für Anlagen in den historischen Kernen sowie zinsvergünstigte Darlehen und andere Anreize für Private. «Einige Massnahmen werden sich architektonisch und städtebaulich auswirken», sagt Jody Trinkler vom Amt für Umwelt und Energie der Stadt Lugano. «Wir glauben, dass das Stadtbild von Lugano sich mit der Strategie zur Entwicklung und zum Bau der Photovoltaik noch stärker verändern wird.»

Luzern
Die Stadt hat Massnahmen ausformuliert. Die Energie- und Klimastrategie will bis 2050 eine Photovoltaik-Leistung von 180 MWp erreichen, was 162 GWh pro Jahr entspricht und damit gut einem Viertel des für 2050 angenommenen Stromverbrauchs der Stadt Luzern. Heute deckt Solarstrom erst knapp 3 Prozent des Verbrauchs ab. Der Solarkataster wird überarbeitet und mit Fassaden ergänzt. Die Bau- und Zonenordnung soll demnächst eine «Pflicht zur energetischen Nutzung für neue und wesentlich geänderte Schräg- und Flachdächer» enthalten. Bei den Anreizen für Private kommen auch qualitative Anliegen zum Zug. So soll ein Förderprogramm aufgebaut werden, das unter anderem finanzielle Anreize setzt für die Kombination von Photovoltaik und Dachbegrünung, für in das Dach integrierte Anlagen oder für «zusätzliche gestalterische Anforderungen». Damit versucht Luzern, seine riesigen Ausbauziele mit stadtspezifischen Ansprüchen zu verknüpfen.

 

Die Stadt als solares Kraftwerk? Noch weiss niemand, wie sie aussehen wird. Die Fotografen Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger haben schon mal angefangen, an ihr zu basteln mit ihren augenzwinkernden Collagen für das Themenheft «Solaris #7».

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