Mit einer ‹Charrette› werden Entwurfszeichnungen eingesammelt: Skizze aus ‹L’Ecole des beaux-arts, dessinnée et racontée par un élève›, Alexis Lemaistre, 1889.

Baukultur statt Braindrain

St. Gallen leistet sich eine neue Architekturschule. Längst geht es nicht mehr bloss um den Fachkräftemangel, sondern um lokale Baukultur und Identität.

Zu den Besonderheiten des neuen Architekturlehrgangs, so lesen Studieninteressierte auf der Website der Fachhochschule St. Gallen, gehören ein intensiv gelebter Werkstattgedanke und die ‹All School Charrettes›. Das hört sich spannend an, bloss: Was ist eine Charrette? Das französische Wort bedeutet Wagen oder Karren, die umgangssprachliche Wendung ‹être en charrette› hingegen so viel wie ‹unter grossem Termindruck stehen›.
Aufklärung findet man in der Geschichte der Pariser Ecole des beaux-arts, einer der traditionsreichen Institutionen der Architekturausbildung: Wie es auch heute noch hie und da vorkommen soll, arbeiteten die Architekturstudenten früherer Jahrzehnte dort tage- und nächtelang an ihren Abgabeplänen. Sie schufteten buchstäblich bis zur letzten Minute, konkret: bis ein Wägelchen, eben die Charrette, durch die Ateliers gezogen wurde, um die Projektzeichnungen einzusammeln. Wer mit dem letzten Strich noch nicht fertig war, den sah man anschliessend mit den Plänen unterm Arm durch die Strassen des sechsten Arrondissements dem schicksalhaften Karren hinterherrennen. Im französischen und englischen Sprachraum hat sich der Begriff ‹charrette› deshalb als Umschreibung der letzten, intensiven Entwurfsphase vor der Projektabgabe etabliert. Man benützt ihn an Architekturschulen und – bei entsprechendem Einsatz – auch in Architekturbüros.

Lernbereiche: Bau, Kunst, Archiv, Technik, Mensch
Nun ist die ‹All School Charrette› des neuen Architektur-Bachelors keine Aufforderung zum kollektiven Schlafverzicht, sondern meint erst einmal die «Durchmischung von Studierenden aller Studienjahre in gemeinsamen Projektwerkstätten»: In St. Gallen soll man voneinander lernen, und man soll an einem konkreten Projekt lernen. Sie stelle sich vor, dass ein architektonisches Projekt «auf die Werkbank in die Mitte gelegt» werde, erklärte kürzlich die Architektin Anna Jessen, die für die didaktische Konzeption des Lehrgangs verantwortlich zeichnet und die St. Galler Architekturwerkstatt gemeinsam mit Thomas Utz leitet. Der gebürtigen Konstanzerin, die gemeinsam mit Ingemar Vollenweider ein Büro in Basel führt, ist es an einer ganzheitlichen Vorstellung der Disziplin gelegen. In einem kleinen Schema, das in der Broschüre über den neuen Studiengang zu finden ist, wird das St. Galler Modell anhand eines Pentagons erklärt. Dessen Mitte besetzt das ‹Projekt›, fünf ‹Lernbereiche› sind kreisförmig darum angeordnet. Sie heissen ‹Bau (Raum und Fügung)›, ‹Kunst (Wahrnehmung und Darstellung)›, ‹Archiv (Geschichte und Theorie)›, ‹Technik (Tragwerk und Ressource)› und ‹Mensch (Gesellschaft und Realisation)›. Hinter den poetisierenden Titeln kann man ohne viel Mühe die gängigen Lehrinhalte eines jeden Architekturunterrichts ausmachen. Unübersehbar ist gleichzeitig der Anspruch auf Innovation: Alles ist in St. Gallen etwas anders als gewohnt. Die neuen Formen aber weisen den Weg zurück zum alten Ideal des Architekten als Homo universalis.

Am Anfang stand der Fachkräftemangel
Dass die Baukunst eine «mit vielerley Kenntnissen und mannichfaltiger Gelehrsamkeit ausgeschmückte Wissenschaft» sei, weiss man seit dem guten Vitruvius. Als Anfang 2012 im Kantonsrat St. Gallen ein Postulat mit dem Titel ‹Wiedereinführung der Architekturabteilung an der Fachhochschule FHS in St. Gallen› eingereicht wurde, waren die Ansprüche jedoch weitaus pragmatischer. Anlass zum Vorstoss gab der Fachkräftemangel im Architekturbereich, den die Ostschweiz in besonderem Masse zu spüren bekommen hatte. Die Verfasser des Postulats – Markus Bollhalder (CVP), Mitinhaber des St. Galler Architekturbüros Bollhalder Eberle Architektur, Arno Noger (FDP), Präsident der Ortsbürgergemeinde, und Hans Richle (SVP), Architekt und damaliger Präsident des Kantonalen Gewerbeverbands – führten die alarmierende Situation auf die Abschaffung der Ingenieur-Architekt-Ausbildung an der FHS St. Gallen zurück, die bis 2007 angeboten worden war, dann aber wegen neuer Auflagen aus Bern und mangels Interesse eingestellt wurde. Junge architekturinteressierte Ostschweizer, beobachteten Bollhalder, Noger und Richle, würden nun entweder an der ETH in Zürich oder an der ZHAW in Winterthur studieren und nach abgeschlossenem Studium nicht mehr in die Heimat zurückkehren, «da attraktive Arbeitsplätze im Grossraum Zürich im Übermass vorhanden sind». Die Regierung trat auf das Postulat ein und beauftragte die Rektorenkonferenz der Fachhochschule Ostschweiz (dem Verbund der Fachhochschulen von St. Gallen, Rapperswil, Buchs und Chur) darzulegen, wie die aufgegebene Architekturausbildung wieder eingeführt werden könnte. Ziel: Den Braindrain – also die Talentabwanderung in die Limmatstadt und andere Kantone – zu stoppen oder womöglich sogar umzukehren. Letzteres wäre dann der unwahrscheinliche Fall eines sanktgallischen Braingain.
Wie der Bericht der Ostschweizer Rektorenkonferenz in der Folge detailliert ausführte, waren in den lokalen Büros die SIA-Leistungsstufen 2 und 3 (‹Vorstudien› und ‹Projektierung›) noch einigermassen genügend abgedeckt, doch bei Fachkräften für die Leistungsstufen 4 und 5 (‹Ausschreibung› und ‹Realisierung›) bestand ein erhebliches Defizit. Weil bei der Ausbildung an der ETH und an anderen universitären Schulen die Leistungsstufen 2 und 3 im Zentrum stehen, ergab sich für die Verfasser des Berichts eine logische Schlussfolgerung: Eine Ausbildung, die den Fokus auf Bauleitung und Ausführung legt, würde die Bedürfnisse des lokalen Arbeitsmarkts optimal abdecken und gleichzeitig eine Lücke im gesamtschweizerischen Ausbildungsangebot schliessen. Eine «ähnliche Ausbildung» wie der zehn Jahre vorher abgeschaffte Lehrgang zum Ingenieur-Architekten soll es werden, vermeldete die ‹Ostschweiz am Sonntag› im April 2015, «mit dem Schwerpunkt Bauprojektleitung und Bauausführung».

Rhetorik und Realität
Heute, wo die ersten Studierenden ihre Ausbildung beginnen, steht die Architektur wieder im Zentrum: Nicht mehr von den Leistungsstufen 4 und 5 ist die Rede, dafür von einem exklusiven Atelierunterricht, in dem das ganzheitliche Denken gelehrt werde. «Als wir das Postulat einreichten, hatten wir noch kein fixes Bild der Architekturausbildung, wir brauchten einfach Personal», sagt dazu Markus Bollhalder, der den Beirat Architektur der Fachhochschule St. Gallen präsidiert. «Ein Atelier hätte sich auch gar nicht verkaufen lassen, in der Politik muss man pragmatisch argumentieren.» Die Spezialisierung auf Bauleitung und -ausführung, so bemerkte man bald, ergab ebenso wenig Sinn. «Das Bologna-System verlangt nach einer Vergleichbarkeit der Studiengänge: Ein Architekturstudierender aus St. Gallen muss an eine andere Fachhochschule wechseln können und umgekehrt», erläutert der Architekt Thomas Lehmann, damaliger Präsident des SIA St. Gallen / Appenzell und ebenfalls Mitglied des Beirats. «Würden wir nur Bauausführung unterrichten, würde man für einen Wechsel an eine andere Schule kaum die notwendigen ECTS-Punkte erreichen.» Hinzu kam eine Beobachtung aus dem eigenen Büro: «Unsere Praktikanten wollen gesamtheitlich Architektur studieren, nicht irgendeine Spezialisierung.» Geblieben ist der St. Galler Architekturwerkstatt ein enger Praxisbezug: zum einen mit der Gewichtung des Handwerks und der Materialkunde, zum andern durch einen ständigen Austausch mit lokalen Architekturbüros, die Studierenden Praktikums- und Teilzeitstellen anbieten und in der Schule über aktuelle Bau- und Planungsvorhaben berichten sollen. Entsprechend sieht man das berufsbegleitende Studium in St. Gallen als gewinnbringendes Modell.
Was an den schillernden Bildern von ‹Architekturwerkstätten› und ‹All School Charrettes› Realität ist und was blosse Rhetorik bleibt, wird man erst dann ermessen können, wenn sich der Lehrgang etabliert und die ersten Abgänger die Schule verlassen haben. Vorläufig ist die Erkenntnis wichtiger, dass das neue Architekturstudium mehr kann und mehr soll, als bloss eine Lücke im Arbeitsmarkt zu stopfen. Wo die jungen Architekten fehlen, darbt die Baukultur. Wo es keine Schule gibt, fehlt ein wichtiger Ort für Vorträge und Veranstaltungen, für den Austausch und die Diskussion – nicht nur unter Studierenden und Dozentinnen, sondern auch zwischen Fachleuten und der Öffentlichkeit. Nicht zuletzt deshalb haben sich Vereine wie das Architekturforum Ostschweiz oder der Regionalverband des SIA für die Wiedereinrichtung des Studiengangs starkgemacht. «Wichtig ist, dass die Architektur im Gespräch bleibt, dass das Bewusstsein für den öffentlichen Raum gestärkt wird», sagt Thomas Lehmann, «und da hilft eine Schule, weil sie die Bevölkerung miteinbeziehen kann.» Lehmann hofft, dass sich rund um die Schule, das Architekturforum Ostschweiz und die lokalen Büros eine kleine Szene etabliert. Dass die Studierenden mitbekommen, was ortsbaulich läuft. Und dass sie merken, dass dies ebenso interessant ist wie das, was in Zürich geschieht. Fromme Wünsche oder bald schon Realität?

Abbild neuer Bildungslandschaften
Gut dreissig Studierende haben sich für das neue Bachelorstudium angemeldet und beginnen diesen Herbst mit der Ausbildung. Das entspricht schon fast der durchschnittlichen Zahl Studierender, die bislang in andere Kantone abgewandert sind; ökonomisch gesprochen gelingt dem neuen Studiengang also auf Anhieb eine nahezu vollständige Marktausschöpfung, was als untrügliches Zeichen für die Attraktivität des Angebots gewertet werden darf (gerechnet hatte man mittelfristig mit zwei Dritteln). Auch volkswirtschaftlich wird sich die Investition in den Studiengang voraussichtlich auszahlen: Ausgleichszahlungen an andere Schulstandorte fallen weg, die Wertschöpfung bleibt auf eigenem Gebiet, der Grossraum St. Gallen wird als Standort auf vielen Ebenen attraktiver.
Ob das Manöver gesamtschweizerisch Sinn ergibt, ist freilich eine andere Frage. Einer Konzentration der fachhochschulischen Architekturausbildung auf wenige, klar profilierte Ausbildungsstätten, wie sie von Fachleuten in den letzten Jahren immer wieder gefordert wurde, steht die neu eröffnete Architekturschule jedenfalls diametral entgegen. Ebenso unbekümmert verhält sich die St. Galler Architekturwerkstatt, die um Maturandinnen genauso wie um Zeichnerinnen und Zimmerleute wirbt, gegenüber dem dualen Bildungssystem, also der Unterscheidung zwischen dem universitären Zugang zum Architektenberuf und demjenigen, der über Zeichnerlehre, Berufsmatur und Fachhochschule führt. Dabei steht die Schärfung der «komplementären Profile der beiden Hochschultypen» ganz oben auf der Agenda des Architekturrats, der 2008 als gemeinsame Plattform der Architekturschulen der Schweiz gegründet wurde. Als «sehr lokal gedacht» empfindet daher Stephan Mäder, der bis Anfang 2017 das Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen an der ZHAW in Winterthur leitete und den Architekturrat präsidierte, die St. Galler Initiative. In seinen Augen wäre eine Kooperation sinnvoller gewesen als der Alleingang: gemeinsam zu prüfen, welche Angebote es braucht und wie sie in gegenseitiger Ergänzung abgedeckt werden könnten.

Künstler oder Dienstleister?
Stattdessen muss sich der neue Studiengang in einem hart umkämpften Umfeld behaupten. Er steht in Konkurrenz zur ETH Zürich und zur ZHAW in Winterthur, aber auch zur Universität Liechtenstein, deren Architekturinstitut Bachelor-, Master- und Doktoratsstudien anbietet, oder zur HTW Chur, die mittelfristig aus dem Verbund Fachhochschule Ostschweiz (FHO) austreten und zur eigenständigen Fachhochschule werden will. So gesehen ist die exklusive ‹Architekturwerkstatt› auch ein Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb der Ausbildungsstätten. Denn ob man will oder nicht: Das duale Bildungssystem ist längst durchlässig geworden. Hochbauzeichner machen ihren Master an der ETH, Maturandinnen entscheiden sich für ein Architekturstudium an der Fachhochschule. Die Wege sind vielfältig. An der Genfer Fachhochschule kommen 80 Prozent der Architekturstudierenden vom Gymnasium, in Winterthur etwa 15 Prozent, in Muttenz halten sich Lehrlinge und Maturanden etwa die Waage.
Auch wenn sich dem Sachverhalt positive Seiten abgewinnen lassen – so sind die individuellen Bildungswege nicht mehr auf Jahre vorgezeichnet –, reflektiert die nebulöse Bildungslandschaft vor allem ein Berufsbild, das seiner selbst nicht mehr sicher ist. Ist der Architekt ein Künstler oder ein Dienstleister? Eine Handwerkerin oder eine konzeptionelle Planerin? Ein kühl rechnender Ökonom oder ein freigeistiger Kulturmensch? Alte Fragen in neuem Gewand, sicherlich, aber die rasanten Veränderungen in der Bauwirtschaft haben sie einmal mehr virulent werden lassen. Angesichts ökonomisch optimierter Bauprozesse und der damit einhergehenden Marginalisierung des Architektenberufs deutet einiges darauf hin, dass die Ganzheitlichkeit, die auch in St. Gallen hochgehalten wird, mehr nostalgisches Wunschbild als realistische Beschreibung ist. Man wird es jedenfalls nicht gerne hören, aber selbst die ‹Charrette› ist nicht mehr das, was sie einmal war. Wie das ‹Harvard Design Magazine› kürzlich feststellte, steht der Begriff nicht mehr für hektische ‹all-nighters› vor der Projektabgabe, sondern für interdisziplinäre Sitzungen am Anfang eines Entwurfsprozesses. An die Stelle des kreativen Chaos ist das geordnete Brainstorming getreten. Um achtzehn Uhr ist Feierabend.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 9/2017 der Zeitschrift Hochparterre.
 

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