Wer geht zu wem? Architekturstudenten der ETH wählen vor Semesterbeginn ‹ihre› Professur.

Stillschweigende Zunft

Architekten gehen in dieselben Bars und huldigen als Studenten einem Meister, der sich auf Meister bezieht, die sich auf Meister beziehen. Kehren wir zum mittelalterlichen Prinzip der Zünfte zurück?

Das zwölfte Jahrhundert war geprägt vom Entstehen der Zünfte: Handwerker versammelten sich, um die Interessen ihres Berufes lokal zu vertreten. Sie hintertrieben die ausländische Konkurrenz, stellten die Qualität der Produktion sicher und organisierten die Ausbildung der Lehrlinge. Eine Charta bestimmte den hierarchischen Rahmen der Zunft: Lehrlinge wurden einem Meister zugewiesen, von dem sie in die Geheimnisse des Berufs eingeführt werden sollten. In den folgenden Jahrhunderten führte die wachsende Dimension und der gesellschaftliche Einfluss der Zünfte zu zivilen Konflikten. Handwerker widersetzten sich der regierenden adligen Klasse und setzten ihre Anwesenheit im Gemeinderat der Städte durch.

Der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance und die Wiederentdeckung der Antike haben das Zunftsystem nicht gestürzt. Tatsächlich begünstigte er es und den Meistern wurde ein noch höherer Einfluss zuteil. Brunelleschis Ideen der Norm, der Modularität, der Wiederholung und der Abstraktion, erlaubten es, die Bauverwaltung der Zünfte zu durchbrechen und das architektonische Projekt in die Händen einer einzelnen Figur zu legen. Er erfand die Rolle des Architekten, und überholte damit die Macht der Zünfte. Deleuzes Definition eines ‹Stylists› beschreibt diese neue Figur treffend, als jemanden, der einen starken persönlichen Einfluss auf die Sprache ausübt. Die Werke von Bramante, Michelangelo oder Raphael wurden absolute Referenzen für die gesamte Künstler- und Architektengemeinschaft. Man könnte sie mit heutigen Figuren wie Raf Simons von Calvin Klein oder Maria Grazia Chiuri von Dior vergleichen, die die Regeln der gesamten Modewelt diktieren.

Erst mit dem Zeitalter der Aufklärung wurden Stile in Frage gestellt und Architekten distanzierten sich von den klassischen Modellen, die ihre alten Meister zur Verfügung gestellt hatten. Die Idee eines richtigen Stils verschwand. Mit dieser neu gewonnenen Haltung kam in England eine Wiederbesinnung auf die gotische Architektur auf, beispielweise von Architekten wie Horace Walpole, der das Schloss Strawberry Hill nach dem Vorbild mittelalterlicher Kathedralen schuf.

Und heute? Die Architekten bleiben meist zusammen, jede Schweizer Stadt hat ihre eigene Architektengemeinschaft und deren Mitglieder erwählen eine bestimmte Bar zu ihrem ‹Zunfthaus›. Könnten wir behaupten, dass Architekten zu einer zunftähnlichen Organisation zurückkehren? Wo die mittelalterlichen Zünfte Gebäude bauten, wäre die heutige Zunftsproduktion das Projekt. Und wie sieht das Verhältnis zwischen den Studenten und ihren Meistern aus? Im akademischen Beaux-Arts-System der ETHZ sollen wir Studierenden stillschweigend die Arbeitsweise unserer Lehrer und damit ihren (mehr oder weniger starken) Stil kopieren. Einen Stil, der vor allem von einer Auswahl an Referenzen definiert ist. Der Meister bezieht sich auf Meister, die sich auf Meister beziehen. Wir leben in einem Überfluss von Meistern. Wir schwimmen in einem Meer von Referenzen. Der Weg, um sich nicht zu verlieren ist entweder eine persönliche Auswahl von Referenzen - eine Art Verstand-Zunft - oder die völlige Abwendung von diesen. Die letztere Option ist der Trend.

In Molières Theaterstück ‹le bourgeois gentilhomme›, ist Herr Jourdain erstaunt, als er erfährt, dass die Art seiner Sprache nur ein bestimmter Stil unter anderen ist: Prosa. Wir befinden uns heute in einer ganz ähnlichen Position wie er.

* Adrien Meuwly ist Redaktor der Zeitschrift trans. trans ist das Fachmagazin des Architekturdepartements der ETH Zürich und wird seit 1997 von einer unabhängigen, studentischen Redaktion geführt.

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