Selbstportrait / Entfremdung 2015, Tabea Schmassmann, Bleistift auf Papier, 29 x 42 cm Fotos: Tabea Schmassmann

Liebes Tagebuch

Eine Londoner Architekturprofessorin schreibt öffentlich über ihre Selbstzweifel und Ängste. Das liess unsere Autorin das Tagebuch als Werkzeug entdecken. Um mit einem kritischen Bewusstsein des eigenen Selbst verantwortlich handeln zu können.


Vergangene Woche lernte ich Jane Rendell kennen. «Giving an Account on Oneself: Architecturally» heisst der zwölfseitige Text, der 2016 im Journal of Visual Culture publiziert wurde, und der mich mit einem Ausschnitt aus ihrem Leben bekannt machte. Er besteht im Kern aus Tagebucheinträgen, die sie zwischen Januar 2013 und Oktober 2015 verfasst hat: «Before dawn, almost every night now, I am jolted awake, surprised and disoriented for a second or two; then I remember, and the panic rears up through me. Will fighting this battle, pitting myself against my institution, lose me my job?» Jane Rendell ist Professorin für Kunst und Architektur an der Bartlett School of Architecture. Sie ist Schriftstellerin, Kritikerin, Theoretikern und beschäftigt sich mit feministischer Theorie, Architekturgeschichte, Design. Sie ist eine öffentliche Person. Und sie schreibt über ihre Selbstzweifel.

Anlass für ihren Text war eine Debatte an der UCL Bartlett über den Aufbau einer neuen Rechercheabteilung, finanziert mit Geldern des Rohstoffkonzerns BHP Billiton. Rendell warf damals die Frage auf, ob es als öffentliche Institution ethisch vertretbar wäre, mit 10 Millionen Dollar eines multinationalen Erdölriesen Forschung zu finanzieren. Sie bekam Gegenwind. Durch das Festhalten der Ereignisse und ihrer Emotionen in Form von Tagebucheinträgen konnte sie die Geschehnisse zurückverfolgen, und sich selbst darin verorten.

Es ist das erste Mal, dass ich eine Publikation einer Architekturprofessorin las, in denen es um die emotionale Welt der Autorin ging. Sich in einer Position wie ihrer über innere Selbstzweifel und Ängste zu sprechen, ist mutig. Und zeugt von einer zutiefst selbstkritischen Haltung. Kritik an der Umwelt äussern können wir alle. Aber Kritik an sich selbst? Und das noch vor anderen?

Das Format des Tagebuches kann also Werkzeug sein, Bewusstsein für das eigene Ich zu entwickeln, und sich im Klaren zu werden über die sozialen Bedingungen, die dieses Ich begründen. Was habe ich gemacht? Was war meine Rolle dabei? Wie habe ich mich dabei gefühlt? Warum? Wieso habe ich damals so gehandelt? Was will ich das nächste Mal anders machen? Eine solche Selbsttransparenz und Selbsterzählbarkeit sind entscheidend für das ethische Verständnis des Menschen: «If the subject is opaque to itself, it is not therefore licensed to do what it wants or to ignore its responsibility» schrieb die Theoretikerin und Philosophin Judith Butler 2005 dazu. Plötzlich erscheint das Tagebuch nicht mehr als verklärender Ort unserer Träume sondern als gesellschaftlich wirksames Instrument. Das Verständnis des eigenen Ichs, seinen Stärken und seinen Schwächen, werden so zur fundamentalen Voraussetzung einer ethisch handelnden Gesellschaft. Vielleicht sollten wir alle anfangen, Tagebuch zu schreiben. Als eine selbstkritische Praxis, sozusagen.

* Dorothee Hahn ist Redaktor der Zeitschrift trans. trans ist das Fachmagazin des Architekturdepartements der ETH Zürich und wird seit 1997 von einer unabhängigen, studentischen Redaktion geführt.

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