Baumeisterlich: Häuser von Fernand Pouillon am alten Hafen von Marseilles. Fotos: Georges Seguin (via Wikimedia Commons)

Bilder konstruieren

An der ETH wird momentan das ‹baumeisterliche Bauen› hochgehalten. Doch wo lernen die angehenden Architektinnen und Architekten handwerkliches Konstruieren? Meist im Praktikum oder nach dem Diplom.

Die Provence im Spätsommer klang verheissungsvoll nach Sonne und gutem Wein vor dem Semesterbeginn am Hönggerberg. Wir setzten uns in den TGV Lyria Richtung Marseille. Während der Zug nach Süden rauschte, kramten wir unsere Bücher hervor. Vielmehr als Le Corbusiers allseits bekannte Unité interessierte uns das Werk von Fernand Pouillon am alten Hafen der Stadt. Pouillon hatte eine mediterrane Nachkriegsmoderne für die zerstörte Hafenstadt entworfen, die ohne glatten Weissputz oder Beton Brut auskommt. Abseits der CIAM entwickelte er mit präzise geschichteten, honiggelben Kalksteinblöcken die tektonische Baukunst weiter, die bereits die Römer und romanische Baumeister in der Region hinterlassen hatten. Wir fuhren in den Süden um das 'baumeisterliche Bauen' zu huldigen, ganz dem Zeitgeist unserer Schule folgend.
Im ersten Jahreskurs hören alle Studierende von Sigurd Lewerentz, der noch mit 80 Jahren auf der Baustelle stand, um seine ungeschnittenen Backsteine mit extrabreiten Mörtelfugen mauern zu lassen. Eine schöne Geschichte, mit atmosphärischen Bildern im Vorlesungssaal untermalt. Pouillon – den man meist später kennenlernt – baute sein erstes Haus mit 22 Jahren, dem Alter also, wo wir Studierende von der Schulbank aus sein Werk betrachten. Nur: Wie können die angehenden Architektinnen und Architekten das hochgehaltene Ideal des handwerklichen Konstruierens im Vorlesungssaal erlernen?
Wir alle besitzen zwar das wuchtige Lehrbuch «Architektur konstruieren» – tatsächlich übernimmt man daraus für seinen eigenen Entwurf mal gerne einen vorgefertigten Detailschnitt –, aber für das konkrete Wissen um die Konstruktion bleibt dies eine eher dürftige Quelle. Alternative Lehrbücher, wie das exzellente, vom Interkantonalen Lehrmittelkolleg herausgegebene „Die neue Konstruktionslehre für den Hochbau“, scheinen im Architekturdepartement unbekannt zu sein. Dabei gäbe es einige Argumente für deren Nutzung im Lehrbetrieb: In 25 dünnen Broschüren werden alle wesentliche Schritte im Hochbau, von der Fundation bis zur Dachhaut, prägnant und übersichtlich behandelt. Im Studium ausgeklammerte Themen wie die Planung von Sanitärleitungen oder Lüftungen werden ebenfalls angesprochen – und gerade hier sieht man, wie die abstrakten Diagramme aus den ETH-Vorlesungen, die von den Entwurfsstudios komplett entkoppelt sind, konkrete Züge im Plan annehmen. Dennoch bleiben dabei die Darstellungen, die für Hochbauzeichnerlehrlinge konzipiert wurden, stets verständlich. Schliesslich sind es nicht zuletzt auch die ungeschminkten Farbfotografien in der Publikation, die die Welt des Konstruierens aufleben lassen und den Vergleich zwischen Plan und Wirklichkeit provozieren.  
Die eigene Konstruktionslehre am Departement scheint zu einem atmosphärischen Bild – der Tektonik? – zu verflachen, dessen Tiefenstruktur einem jedoch verschlossen bleibt. Scheinbar wird davon ausgegangen, das man das Konstruieren irgendwie und irgendwann erlernt – wenn nicht im Praktikum, dann nach dem Diplom. Unterdessen bleibt also nur die Wahl des autodidaktischen Studiums, und auf diesem Weg nimmt man jeden Fingerzeig, sei es auch nach Südfrankreich oder Schweden, dankbar entgegen.

close

Kommentare

Kommentar schreiben